Das Mädchen aus dem Meer: Roman
vielleicht vorstellen kannst. Aber unsere Väter verbrachten, wie gesagt, gern viel Zeit miteinander, und die nächste Gelegenheit dazu bot sich im Herbst.
Unser Unterricht beinhaltete nicht nur die ungeliebte Theorie, die deutlich beliebteren Experimente und das Erlebnislernen im Freien, sondern auch sportliche Aktivitäten, an denen, wie am Erlebnislernen, auch die Kinder anderer gut situierter Familien und eine Handvoll Kinder von Bediensteten immer herzlich eingeladen waren, sofern sie sich durchweg unauffällig verhielten. Manche Dinge, wie das Ringwerfen und das Ballringen, sind zu zweit einfach nicht durchführbar, und wieder andere, wie der Hürdenlauf, den immer mein Bruder gewann, und das Balancieren auf Zeit, das meine Spezialität war, machen ohne eine Handvoll halbwegs würdiger Gegner keinen Spaß.
Einmal im Jahr, jeden Herbst, veranstalteten wir einen großen Wettstreit auf Hohenheim, zu dem wir auch die Kinder aus den umliegenden Dörfern bis nach Kirm einluden. Dass Cocha und seine Geschwister da nicht fehlten, war klar. Ich sah unserem ersten Zusammentreffen nach seinem respektlosen Angriff auf meine Würde mit einem unguten Gefühl entgegen, denn er hatte es weder unmittelbar nach dem Zwischenfall noch in den Monaten dazwischen für nötig erachtet, mir eine Entschuldigung zukommen zu lassen. Bei meinen Eltern beklagen wollte ich mich nicht – mein Verhältnis zu ihnen war noch immer angespannt. Zwar war in der Zwischenzeit nichts Bemerkenswertes mehr passiert (außer vielleicht, dass mein Bruder tatsächlich noch immer mit einem senilen Lehrmeister geschlagen war, mit dem er sich aber erstaunlich gut verstand), aber Vaters Ausbruch ungezügelter Gewalt hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, der bis heute – und längst noch viel intensiver – auf meiner Zunge haftet.
Am Morgen des Wettstreits ließ ich mir jedenfalls betont viel Zeit im Baderaum, denn am Vorabend hatte ich durchs Fenster beobachtet, wie Viralucas Familie und ihr Gefolge in den Hof einkehrten und in das Gästehaus geleitet wurden. Normalerweise reiste nur ein Elternteil mit nach Hohenheim, aber weil Milla kurz nach dem Handelsfest ihr fünftes Kind zur Welt gebracht hatte, das Viraluca meinen Eltern unbedingt persönlich präsentieren wollte, waren sie alle gemeinsam gekommen. Folglich würde ich Cocha schon beim Frühstück begegnen. Ich war gereizt und lustlos.
Nach einer kleinen Ewigkeit unter dem Wandwasserfall entschied ich, gleich noch ein Vollbad zu nehmen und meinem Haar bei dieser Gelegenheit ein Vollpflegeprogramm zu gönnen.
Durch euer Haus plätscherte ein Fluss?
Nein, Froh. Ein Wandwasserfall, der in einen künstlichen Teich stürzte. Die heiße Luft aus den warmen Quellen und das Feuer in den Wänden heizten das Wasser auf, sodass es immer angenehm warm war. Ein Abflussrohr am Grund des Bads, des künstlichen Sees also, leitete das überschüssige Wasser durch die Toilettenanlagen und letztlich ins Meer hinaus. Nein – wenn ich dir das alles erkläre, verliere ich schon wieder den Faden. Im Bad also …
Ich blieb dort, bis meine Haut aufgedunsen und schrumpelig war und ich zu frieren begann, obwohl das Wasser, wie gesagt, sehr warm war. Weil Moijo natürlich vor der Tür wartete und mein Weg unweigerlich aus dem Bad in den Speisesaal führen würde, hatte ich irgendwann nur noch die Wahl, Cocha, dem Dummkopf, endlich gegenüberzutreten, oder hierzubleiben, zu schlottern wie ein Nacktmull in der Arktis und mich dabei vollends aufzulösen, um schließlich mit den zähflüssigen, übel riechenden Abwässern ins Meer gespült zu werden. Dann also doch lieber Cocha …
Du sprichst von so vielen Menschen. Wenn er nur einer von vielen war, warum hast du dir so viele Gedanken um diesen Jungen gemacht? Hättest du nicht einfach versuchen können, ihn zu übersehen?
Ja. Nein …
Es war ein Bauchgefühl. Eine Intuition. Natürlich war Cocha nur einer von vielen Menschen, mit denen ich mehr oder weniger Zeit verbringen musste und die ich mehr oder weniger gern hatte, manchmal auch gar nicht mochte, wie zum Beispiel meine Basen. Was Mo und Rajik anging, hatte ich kein Problem damit, sie einfach zu ignorieren und – wenn es gar nicht anders ging – einen oberflächlich freundlichen Umgang zu pflegen, die Etikette zu wahren und sie sofort wieder zu vergessen, sobald sie weg waren.
Nicht so Cocha.
Irgendetwas sagte mir, dass er … nicht unbedeutend war. Dass das Schicksal ihm eine Rolle in meinem Leben
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