Das Mädchen aus dem Meer: Roman
in der Zelle.«
»Ich glaube nicht, dass das …«, wandte Milla unbehaglich ein, aber meine Mutter ließ sie nicht ausreden.
»Keine Sorge. Sie werden weder hungern noch dursten. Ich will nur, dass sie miteinander reden, um sich künftig besser zu verstehen. Schließlich möchte ich nicht jedem Treffen mit euch mit einem Kloß im Hals und einem Krampf im Magen entgegensehen«, beschwichtigte sie.
Milla wirkte nicht überzeugt, widersprach aber nicht weiter, sondern bedachte ihren Ältesten bloß mit einem Blick, der mir damals völlig suspekt war, den ich heute aber mit Leichtigkeit zu deuten vermag.
Beuge dich deiner Strafe, mach mir keinen Ärger, stand darin geschrieben. Und halte, bei allen Sternen am Himmel, bloß die Klappe …
Cocha ließ demütig den Kopf hängen, und Moijo ergriff uns beide im Nacken und trieb uns, ungeachtet meines lautstarken Protestes, vor sich her in den Keller. Und so fanden wir uns allein in einer Zelle wieder, die eigentlich als Zwischenstation für Diebe, Gewalttäter und Verräter am Hof gedacht war.
Und? Hat er … die Klappe gehalten?
Ja. Und nein. Nicht ganz. Er hat mir längst nicht alles erzählt, was er damals schon wusste, aber genug, um mich nachdenklich zu stimmen. Aber eins nach dem anderen.
Moijo schlug die Tür hinter uns zu und verriegelte sie bewusst geräuschvoll. Cocha seufzte und ließ sich in das (zum Glück gerade frische) Stroh sinken, das den Boden der Zelle bedeckte, und ich stampfte wütend in dem winzigen, fensterlosen Raum umher, der lediglich durch eine kleine Laterne hinter einer fest in der Wand verankerten, bruchsicheren Kristallplatte schwach erhellt wurde. Dabei bedachte ich ihn mit einer Unzahl wenig damenhafter Flüche. Cocha ließ mich schweigend gewähren, und wieder einmal machte mich seine stoische Gelassenheit umso rasender. Am liebsten hätte ich noch einmal auf ihn eingeschlagen, aber unsere kleine Rangelei hatte mir gezeigt , dass er viel stärker war als ich. Auf eine weitere Platzwunde wollte ich es nicht ankommen lassen – ich fürchtete schon, dass von dem kleinen Riss über meinem Auge eine hässliche Narbe zurückbleiben würde, obwohl es schnell wieder zu bluten aufgehört hatte.
Irgendwann hatte ich genug gezürnt und gestampft. Ich kickte ihm eine Handvoll Stroh ins Gesicht, die sich im Laternenschein wie ein Regen aus goldenen Spänen über ihn ergoss, und ließ mich ihm gegenüber mit dem Rücken zur Wand in die Hocke sinken.
»War’s das, o ehrwürdige Faronin?«, spottete Cocha mit seiner dunklen Stimme, die selbst triefend vor Verachtung noch eine innere Ruhe verströmte, für die ich ihn gleichsam hasste wie insgeheim bewunderte. Ohne Eile zupfte er sich das Stroh aus dem zerzausten Haar.
»Läster du nur, du Niemand!«, fauchte ich schwer atmend. »Nur weil unsere Eltern befreundet sind, knüpft man dich nicht auf. Aber warte nur, bis Sora der Faro von Lijm und Jama ist. Dann kriegst du schon noch, was du verdienst.«
Cocha schüttelte den Kopf. »Dein Bruder wird niemals Faro werden«, behauptete er.
»Klammer dich ruhig an die Hoffnung«, gab ich verächtlich zurück.
»Weil nämlich du irgendwann den Thron besteigst«, fuhr Cocha unbeirrt fort. »Aber das beeindruckt mich auch nicht.«
Ich sprang auf. »Wie kannst du so etwas behaupten?«, schnaubte ich. »Mein Bruder ist der Erstgeborene, und er ist ein kluger, fleißiger, gewissenhafter Junge, der …«
»…von einem Greis betreut wird, der seine eigenen Zähne in seiner Kammer vergisst«, fiel Cocha mir ins Wort. »Euer Vater hasst ihn. Er schämt sich für ihn.«
»Lügner!«, schnappte ich. Aber ich hörte selbst, dass ich weniger aufgebracht klang als beabsichtigt. Da schwang eindeutig Zweifel in meiner Stimme mit, denn im Grunde meines Herzens wusste ich längst, dass er recht hatte, wenngleich ich noch immer nicht wusste, warum es so war.
Natürlich hatte ich mehrfach versucht, mit meinem Bruder zu reden, aber er war dem Thema entweder ausgewichen oder hatte behauptet, ich redete mir etwas ein, ich sähe Dinge, die es nicht gäbe, und dass Markannesch ein guter Lehrmeister sei, der beste, den er sich vorstellen könnte. Irgendwann hatte ich aufgehört, mir Gedanken zu machen. Zum Teil, weil ich Sora glaubte, zum viel größeren Teil aber, weil mir schlicht nichts anderes übrig blieb. Es brachte einfach nichts.
»Jeder ahnt es, und ich weiß es eben«, antwortete Cocha. »Meine Augen und Ohren haben es mir verraten. Ich höre, wie dein Vater
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