Das Mädchen aus dem Meer: Roman
wahnsinnig?«, keuchte Cocha. Strampelnd versuchte er, mich von sich abzuschütteln, ohne den Ball loszulassen, und ich schlug ihm meine Milchzähne ins Handgelenk.
Endlich ließ er los. Triumphierend spie ich ihm ins Gesicht und wollte mich mit dem Ball von ihm herunterwälzen, aber er packte mich am Schopf und verpasste mir eine Kopfnuss, indem er meinen Schädel gegen seine Stirn schlug, nicht umgekehrt.
Der Ball hatte keinen Wert mehr. Ich schleuderte ihn achtlos davon und rammte Cocha ein Knie in die Hoden, was ihm ein wütendes Jaulen entlockte. Plötzlich war er über mir – ich weiß nicht genau, wie es geschah – und verpasste mir eine Backpfeife, dass mir die Ohren klingelten.
Dann riss Moijo ihn auf die Füße, und noch ehe er ganz aufrecht stand, war auch Sora zur Stelle und zerrte mich auf die Beine. Ich atmete schwer, blutete aus einer kleinen Wunde an der Stirn und war völlig verdreckt. Dennoch hatte mein Bruder seine liebe Not, mich festzuhalten, denn am liebsten hätte ich mich unverzüglich wieder auf Cocha gestürzt und ihm jeden Zahn einzeln ausgeschlagen.
»Seid ihr denn völlig von Sinnen?«, empörte sich Moijo.
» Nicht schlecht, Schwesterchen. Aus dir wird noch eine gro ße Kriegerin«, lobte mich Sora im Flüsterton, verdrehte mir aber nichtsdestotrotz die Arme auf dem Rücken, damit ich endlich aufhörte zu zappeln. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass sich die Spieler beider Mannschaften, Soras Lehrmeister, die Schiedsrichter und eine Menge Zuschauer im Halbkreis hinter uns versammelt hatten.
Alle warteten gespannt auf den Ausgang der Geschichte. Ich musste mir gut überlegen, was ich sagen wollte, denn es gab viele Zeugen, und jedes Wort, das ich von mir gab, würde gleich auf die Goldwaage gelegt und im Zweifelsfall gegen mich verwendet werden.
Hatte ich schon erwähnt, dass ich dazu neige, nur noch Unsinn zu reden, wenn ich unter Stress stehe?
Du stehst unter Stress …
»Er hat mich beleidigt!«, kläffte ich und deutete anklagend auf Cocha, der mich sichtlich zweifelnd betrachtete. »Er hat mich angerempelt und bespuckt und angegriffen und mir den Ball weggenommen und mich geschlagen und mir überhaupt keinen Respekt gezollt. Ich bin die Tochter des Faros, und er ist nur der Sohn eines popeligen Statthalters, und er hat von meinem Teller gegessen und mich angesehen und angestarrt und provoziert und sich nicht entschuldigt … und … und mir den Ball weggenommen und …«
Mist. Ich hatte angefangen zu heulen. Ich zitterte vor Wut und Scham, und mein Bruder ließ endlich locker, drehte mich mit sanfter Gewalt von Cocha weg und ließ zu, dass ich mich ausgiebig in sein verschwitztes Hemd schnäuzte, nachdem ich es binnen Sekunden völlig nass geheult hatte. Ich hörte, wie die anderen Kinder tuschelten und kicherten, und konnte förmlich spüren, wie sie dabei mit den Fingern auf mich zeigten. Es war wirklich peinlich, und ich wagte kaum, mein Gesicht aus dem weichen Tuch zu nehmen, das Soras Brust verhüllte.
Irgendwann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Moijo war, und ich sah nicht auf, während er mich vor sich her ins Hauptgebäude schob. Ich hörte schlurfende Schritte und erkannte Cochas unverhältnismäßig großen Füße schräg vor Moijos Sandalen; offenbar behandelte er ihn auf die gleiche Weise, nur eben mit der anderen Hand.
Ich sah ihn nicht an, und ich sah auch meinen Lehrmeister nicht an. Ich sah nicht einmal meine Mutter an, die uns beide zusammen mit Milla in der Empfangshalle erwartete. Ich hörte ihr auch nicht zu, als sie irgendetwas von unrühmlichem Verhalten und mangelndem Sportgeist redete. Erst als sie von gemeinsamem Arrest sprach, versuchte ich, das Rauschen aus Zorn, Scham und Rachsucht aus meinem hochroten Kopf zu vertreiben und durch angemessene Empörung, ja, Entsetzen einzutauschen.
»Der und ich?« Fassungslos deutete ich auf Cocha, der lediglich eine Braue hob. »Lieber kopiere ich das Cyprische Handelsmanifest und den Primitivenkodex in allen gängigen Handelssprachen!«, ließ ich verlauten – wohl wissend, dass das meine Fähigkeiten deutlich überstieg. Aber ich hatte ja auch nicht gesagt, wie viel Zeit ich dafür benötigte.
Mutter zuckte die Schultern. »Für diese Art von Konsequenzen ist Moijo zuständig«, erwiderte sie ruhig. »Es steht ihm natürlich frei, auf zusätzlicher Buße zu bestehen. Dennoch wirst du den heutigen Tag mit Cocha verbringen. Und zwar
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