Das Mädchen aus dem Meer: Roman
ausgelassenen Feier – und ich konnte nicht dabei sein!
»Du kannst mich nicht einfach hier abholen wie eine Kiste Küchenkräuter vom Markt!«, schrie ich rasend vor Wut und Enttäuschung. »Ich habe ein Recht darauf, in Silberfels zu lernen – und zwar bis zum Schluss! Ich habe … Ich habe hier Freunde, Moijo! Ich brauche Silberfels, und die Stadt braucht mich! Bildung ist unser wichtigstes Gut, erinnerst du dich? Das waren deine eigenen Worte!«
»Du hast einen Geliebten und keinen einzigen Freund«, korrigierte Moijo mich unbeeindruckt. »Deine Krieger erstatten regelmäßig Bericht. Ob du den Dekan erpresst oder nicht. Aber darum geht es nicht.« Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Es ist ja ohnehin nur Cocha und nicht irgendein Bürgermeistersohn … Deine Eltern sind dir nicht böse – höchstens ein wenig besorgt wegen des Vorfalls im Schülerhaus neulich. Aber es ist alles in Ordnung, Chita. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Und ich bin sicher, sie werden es dir ermöglichen, ihn wiederzusehen, sobald die Umstände es erlauben«, fügte er ungewohnt sanft und verständnisvoll hinzu und bemühte sich dann um einen Verschwörerblick, der in meinen Augen einfach nur albern wirkte. Moijo hatte ja keinen blassen Schimmer von echten Verschwörungen. »In diesem Punkt hat deine Mutter deinen Vater ganz fest im Griff«, behauptete er.
»Schön«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Verdammt – diese Stadt war so gewaltig groß, und sobald die Türen zum Theater aufschwangen, würde sie wieder voller junger Menschen sein! Es gab zahlreiche weitläufige Laboratorien, schlecht beleuchtete Keller und Dachböden voll unnützem Gerümpel. Es war bereits dunkel, und die Männer durften nicht auf mich schießen; sie durften mir überhaupt kein einziges Haar krümmen! Ich musste nur schneller sein als sie und mich irgendwo verstecken, wo ich durchatmen und einen guten Plan aushecken konnte; von mir aus bei den Speichelspuckern im Tierpark!
»Denk gar nicht daran«, bat mich Moijo, als hätte er meine Gedanken gelesen, und packte mich unerwartet kräftig am Oberarm. »Chita, du bist in großer Gefahr. Gormo hat Rossa entführen lassen.«
Ich verharrte. »Was?«
»Er ist aus seinem Zimmer verschwunden. Mitten in der Nacht. Niemand hat irgendjemanden kommen hören oder fliehen sehen«, berichtete Moijo bitter. »Kein Hund hat angeschlagen, nichts. Gestern Morgen lag er einfach nicht mehr in seinem Bett, als hätte er sich in Luft aufgelöst oder wäre nie da gewesen. Deine Eltern sind am Boden zerstört. Sie haben sämtliche Krieger, die in dieser Nacht patrouilliert hatten, entlassen. Aber was nützt es? Und Sora darf es gar nicht erfahren, denn er bereitet sich im Ruhehaus auf seine Operation vor. Es ist wirklich schrecklich.«
Ich starrte Moijo an, erschrocken, traurig und verwirrt. Mein Trotz verkroch sich für einen Moment hinter dem Mitgefühl, das ich für meine Eltern empfand, aber auch hinter einer gehörigen Portion Selbstmitleid, denn ich liebte Rossa zwar nicht so sehr wie meinen älteren Bruder, aber ich hatte ihn doch sehr gern, obwohl ich ganz genau wusste, dass nicht das Blut unserer Dynastie in seinen Adern floss. Außerdem schämte ich mich, weil ich erst jetzt, da Moijo seinen Namen erwähnt hatte, an Sora dachte; aber ich wollte trotzdem nicht nach Hause. Anscheinend war er ja in fachkundiger Hand und so gut wie möglich aufgehoben.
»Rossa taucht schon wieder auf«, kommentierte ich so hilf- wie sinnlos.
Moijo nickte. »Davon bin ich überzeugt«, bestätigte er zuversichtlich. »Bislang hat sich noch niemand zu dem hinterhältigen Kindesraub bekannt, aber dein Vater ist sicher, dass Gormo von Montania dahintersteckt. Er hat sehr zornig auf die neuen Sanktionen reagiert und jüngst angekündigt, fortan mit anderen Karten zu spielen. Das war eine offene Drohung – und nun hat er sie offenbar in die Tat umgesetzt. Es wird sich bald eine Lösung finden. Wenn keine politische, dann eben eine militärische. Wir können uns auf unsere Verbündeten verlassen. Aber bis dahin solltest du …«
Er brach ab, als sich die Erde schüttelte.
Das Erdbeben von Lijm war so heftig, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Schreie lösten den Choral im Theater ab. Unter meiner Hand, mit der ich reflexhaft Halt an der Wand gesucht hatte, bröckelte der Stuck. Ich sah hin und erblickte einen tiefen Riss, der sich binnen eines Atemzugs vom Boden bis zur Dachrinne hinaufzog. Staub und Splitter
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