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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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Blick noch immer, und der schwarze Rauch versuchte mir die Hornhaut von den Augäpfeln zu schmoren. Wie substanzlose glühende Dämonen tanzten die Flammen immer näher an mich heran, und von der anderen Seite griffen die Klauen des Todes nach mir, zerrten an meinen Schultern, verwandelten sich in schmutzige, zierliche Menschenhände und ließen wieder von mir ab. Staubige, von blutigen Schrammen übersäte Waden verschwanden im Nirgendwo, und ich schrie und weinte und flehte um Hilfe. Und dann kehrten die Beine zurück, und sie brachten ein zweites Paar mit, und das Gewicht, das mich am Boden hielt, verschwand, und ich fühlte mich von mindestens vier Händen gepackt und in die Höhe gerissen.
    Die Hitze ließ nach, während ich über das Trümmerfeld schwebte – das Flammenmeer schrumpfte hinter mir zusammen. Ich war zu schwach, um mich aus eigener Kraft voranzubewegen, doch das erwartete auch niemand von mir. Warme, starke Hände überall, leise, gefasste Stimmen, die den Dreck aus meinen Ohren wuschen, ein in Fetzen hängendes Kleid, das im Gegenwind flatterte, saubere Luft, die meine Lungen reinigte …
    Ich hob den Kopf und sah die Sterne über mir am nächtlichen Himmel funkeln, und die silberne Mondsichel lächelte mir zu.
    Und das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal fast geglaubt hätte: an irgendeine höhere Macht, der mein Leben am Herzen lag, an etwas Großes, Spirituelles, dem ich so wichtig war, dass es mir irgendwelche göttlichen Wesen mit übermenschlichen Kräften geschickt hatte, damit sie mich aus dieser Hölle befreiten, damit ich das Ende der Welt überlebte …
    Gute Geister?
    Ja, vielleicht. Oder geflügelte Mischwesen. Was auch immer.
    Aber es waren keine guten Geister, die mich vor dem sicheren Tod gerettet hatten, sondern Golondrin und Mikkoka.
    Ausgerechnet Mikkoka!
    Ich erkannte sie erst, als wir das große Feuer schon weit hinter uns gelassen hatten, denn überall, wo sie nicht von blutigen Schrammen übersät war, war ihre einst dunkle Haut schneeweiß von all dem Staub. Selbst ihre schwarzen Locken waren weiß und standen steif, wie mit Modelliermasse überzogen, in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab. Und auch Golondrin war nur noch eine weiße Gipsfigur. Er sah aus wie die lebensgroßen weißen Statuen der ehemaligen Dekane, die den Innenhof zwischen den Lehrgebäuden säumten – oder gesäumt hatten.
    Jetzt, so schien es mir, säumten einzig noch die Hügel die Hölle, von der ihr Primitiven ständig redet. Ihre Konturen zeichneten sich schwarz gegen den nächtlichen Himmel ab. Die brennende Stadt tauchte einen Teil der kantigen Felsen in unheimliches, oranges Licht. Alles zwischen den Hügel und dem Fluss schien in sich zusammengefallen zu sein, in Flammen zu stehen oder beides. Bald würden einzig noch Staub und Asche an Silberfels, die Stadt der Kinder, den Stolz des ganzen Kontinents und einen wichtigen Pfeiler der Zivilisation erinnern, aber, so schien es mir, es würde niemanden mehr geben, der an irgendetwas erinnert werden könnte – außer Mikkoka, Golondrin und mir selbst war niemand mehr am Leben.
    Auch das war natürlich Unsinn. Vor lauter Staub, Rauch und Flammen konnte ich oft kaum weiter sehen, als ein Arm reicht, während wir über das Trümmerfeld stolperten. Aber wir waren natürlich nicht die Einzigen, die das Erdbeben überlebten. Wie durch ein Wunder hatte die Katastrophe sogar weniger Todesopfer gefordert, als eine Hand Finger hat, und auch Verletzte gab es nicht mehr, als auf meinen Karren gepasst hätten. Von der Stadt selbst blieb allerdings wirklich nicht viel übrig. Fast alles, was nach dem Beben noch stand, musste infolge der Einsturzgefahr abgerissen werden.
    Über all das zerbrach ich mir natürlich nicht den Kopf, während ich irgendwann die ersten eigenständigen Schritte über das Trümmerfeld tat. All meine Gedanken galten Cocha. Ich versuchte, seinen Namen zu schreien, brachte aber nur ein trockenes Krächzen zustande. Golondrin hatte es trotzdem verstanden, denn als ich innehielt und mich verzweifelt nach anderen Überlebenden Ausschau haltend im Kreis drehte, zog er mich ungeduldig weiter und redete zugleich beruhigend auf mich ein.
    »Er war einer der Ersten, die das Theater verlassen haben; er wollte euch folgen«, erklärte er. »Er wird es geschafft haben. Bestimmt ist er längst in Sicherheit. Oder er sucht nach dir. Mach dir keine Sorgen und lauf. Es können noch mehr Feuer ausbrechen. Und es werden noch viele Mauern in sich

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