Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
während die Visionen auf sie einstürmten:
Wieder musste sie die schreckliche Niederlage ihres Landes miterleben, sah den Prinzen fallen, sah Jacobs Mutter in Trauer eine Kerze anzünden … Ein andermal erblickte sie sich selbst als dreizehnjähriges Mädchen; im Wald kauern, verschreckt und ängstlich wie in diesem Augenblick. Und langsam festigte sich in ihr eine Gewissheit: Sie hatte all die Jahre im Kreis gelebt. Nun war sie wieder am Anfang angelangt, gejagt und sich im Unterholz verkriechend wie ein wildes Tier.
Derlei Gedanken quälten sie oft die ganze Nacht. Dann ging die Sonne auf, schimmerte warm durch das Blätterdach – und irgendwo in diesem morgengoldenen Wald war ein Menschenwesen, das seinen Weg aus den Augen verloren hatte.
***
Frierend zog Reeva ihren feuchten Kittel enger um sich und bewegte die Füße in den schlammverkrusteten Schuhen. Unablässig fiel kalter Regen vom Himmel, obwohl das Ende des Sommers noch bevorstand.
Sie hatte Hunger. Schon seit frühester Kindheit wusste sie, was das bedeutete; doch das Ziehen im Magen war nichts, woran man sich gewöhnen konnte, ebenso wenig das seltsam schwebende Gefühl im Kopf. Schon zu lange hatte sie nur Beeren, wilde Äpfel und einige frühe Nüsse zu sich genommen, und nun seit Tagen überhaupt nichts anderes als Wasser. Der Wald hatte ihr früher reichlich gegeben, aber dafür brauchte es Zeit, und die hatte sie nicht. Sie wusste kaum, was sie vorwärtstrieb: Und trotzdem ging sie immer weiter, zwischen den Bäumen hindurch und manchmal über Wiesen oder Felder, und oft dachte sie dabei: nach Hause. Sie musste sich ein Ziel setzen, musste wissen, wofür sie ihre Beine bewegte und Hunger und Kälte ertrug; dieses Ziel war ihre Höhle.
An diesem Tag jedoch fiel es ihr schwer, unablässig weiter über den feuchten Waldboden zu stapfen. Längst waren ihre Füße in den durchweichten Schuhen wundgescheuert, und Reeva meinte fast, die Nässe wäre bereits durch Kleidung und Haut bis zu ihren Knochen gedrungen. War die Kälte heute etwas anderes als am Tag zuvor? Konnte sie damit nicht ebenso fertigwerden wie während der vergangenen Zeit ihrer Wanderung? Doch nein – heute nicht. Heute würde sie den Wald verlassen und ein Dorf aufsuchen, nur dieses eine Mal, um kräftig genug zu sein für den Rest des Weges.
Reeva änderte die Richtung und schritt eiliger voran, bis sich die Baumstämme lichteten.
***
Wegen des schlechten Wetters gab es nur wenige Reisende, die in der Stube des Wirtshauses „Zum weißen Eber“ bei einem Krug Bier saßen. Die Wirtin ließ den Blick seufzend über die leeren Tische gleiten, dann wandte sie sich zum Fenster und schaute hinaus. Wenn es so bliebe, würden sie vermutlich noch mehr Schulden machen müssen; ihr Mann erzählte jetzt schon allabendlich von den ungeduldigen Gläubigern … doch plötzlich störte ein zaghaftes Klopfen an der Tür ihre Überlegungen.
Die Elendsgestalt da draußen erregte das Mitleid der Frau, und schließlich gab es ohnehin keine Gäste, denen sie einen Platz weggenommen hätte. Achselzuckend wies die Wirtin zum Winkel hinter dem Ofen, wo auch die nassen Kleider trocknen konnten.
Reeva hinkte zum anderen Ende des Raumes, kauerte sich auf der Ofenbank zusammen und zog die Knie eng an den Körper. Die Wärme weckte eine wohlige Schläfrigkeit in ihr; nun forderten die Anstrengungen der letzten Zeit ihren Tribut. Bald sank ihr der Kopf auf die Brust, und die Wirklichkeit schien ihr zu entgleiten – da fuhr sie, von einem kalten Luftschwall getroffen, wieder hoch.
Die Tür hatte sich geöffnet, und zwei bewaffnete Männer kamen herein. Diensteifrig eilte die Wirtin auf die beiden zu: „Wünschen die Herren etwas zu essen? Ich kann sogleich ein heißes Mahl zubereiten lassen!“, und einer der Männer gab Antwort. Schlaftrunken runzelte Reeva die Stirn, fast verärgert, dass die Worte so laut zu ihr herüberschallten und ihre Ruhe störten. Weshalb sprachen diese Zwei denn so lange mit der Wirtin? Sie war so müde …
„… verkrüppelt ist sie wohl und hinkt an einem Bein, und dann das Haar: gestutzt wie das eines Knaben. Womöglich trägt sie auch Männerkleidung.“
Auf einmal war die Hitze unerträglich. Trotzdem verkroch sich Reeva hinter den Ofen, als könnte sich dieser auftun und sie verschlingen.
„So jemanden sucht ihr?“, die Stimme der Wirtin, neugierig, hilfsbereit. „Dieses Mädchen sitzt dort drüben im Winkel!“
Polternd fiel ein Hocker um,
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