Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
jeder rief etwas oder drohte mit der Faust. Auf einmal übertönte ein gequälter Aufschrei das Lärmen der Menge. Eine Greisin hielt sich mit beiden Händen den Kopf und wimmerte: „Sie hat mich angesehen! Diese schrecklichen Augen – wie Feuer brennt es jetzt in meinen Schläfen!“
Das alles drang wie durch einen Nebel zu Reeva hindurch. Sie war erschrocken und verwirrt, doch nach und nach schlich sich ein neues Gefühl ein: Angst. Sie sah, wie sich diese Menschen, die ihr fremd erschienen, immer dichter um sie scharten. Ihre Leiber waren wie eine gewaltige Mauer, die vor ihr aufragte, bedrohlich und unüberwindbar. Dann traf sie der erste Stein an der Schulter.
„Verschwinde, Teufelsbrut! Und komm nie wieder zurück!“, brüllte irgendjemand – schon ging ein wahrer Steinhagel über sie nieder.
Reeva warf sich herum und hinkte davon. Sie merkte es kaum, als ein Geschoss gegen ihren Hinterkopf prallte und Blut hervorquoll: Der Schock ließ den Schmerz nur ganz langsam durchdringen. Das Einzige, was sie gestochen scharf wahrnahm, war der staubige Pfad vor ihren Füßen. Dumpf dröhnte ihr Herzschlag in ihren Ohren, wie eine Trommel, die sie anfeuern wollte, die Beine noch schneller zu bewegen.
Der Trampelpfad veränderte sich, wurde weicher und verwandelte sich schließlich in feuchten Waldboden. Längst waren die Schreie der Menschen nicht mehr zu hören; dennoch hatte Reeva das Gefühl, hier nicht sicher zu sein. Der Wald, der ihr bei Tag so still erschien, war nun voller Leben: Sie glaubte ein Rascheln, ein Tappen von Füßen zu hören, und ab und zu schrie eine Eule klagend in die Dunkelheit hinein.
Hatte sich nicht etwas im Unterholz geregt? Waren da nicht Augen, die sie anstarrten?
Ziellos irrte sie in der Finsternis umher, bis ihr schließlich das verkümmerte Bein vor Erschöpfung wegknickte. Auf allen Vieren kroch sie zum nächsten Baum, um sich dagegen zu lehnen. Kaum hatte sich das Pochen ihres Herzens ein wenig beruhigt, wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt. Schwebend zwischen Wachen und Schlafen hielt es Reeva zuerst für einen Traum, als sie eine Gestalt zwischen den Stämmen hervortreten sah.
Langsam kam die Person näher und neigte sich dann herab. „Ruhig, Mädchen, nur ruhig“, hörte Reeva jemanden sagen. Fast schon apathisch schaute sie in das Gesicht der Frau: eine leicht gekrümmte Nase, ein entschlossener Mund – doch das Auffälligste war die leere Augenhöhle, über die schlaff das Lid hing. Das andere Auge war groß und schwarz und blickte das Mädchen eindringlich an.
Eigentlich hätte dieses Gesicht furchteinflößend sein müssen, doch Reeva hatte keine Angst. Es wirkte auf sie seltsam vertraut, und kurz bevor ihr Geist in die Finsternis des Schlafes hinabgezogen wurde, tauchte für einen Moment eine Erinnerung in ihr auf …
***
Es war an einem Tag im Spätsommer. Eine Gruppe von Kindern hatte einen Kreis gebildet, und sie spielten ausgelassen rufend und lachend. Das kleine Mädchen Reeva stand am Rande des Geschehens; es wurde für gewöhnlich von den übrigen Kindern gemieden, jedoch als stumme Zuschauerin geduldet.
So beobachtete Reeva auch diesmal die anderen konzentriert bei ihrem Spiel; sie bemerkte aber bald, dass niemand so recht bei der Sache war. Etwas Spannendes lag in der Luft, etwas Unerhörtes – ständig tuschelten die Jungen und Mädchen miteinander. Reeva fing ab und zu ein paar Satzfetzen auf: „Die Alte kommt!“ – „Woher weißt du das?“ – „Mein Vater hat es meiner Mutter gesagt, und ich habe es gehört!“
Plötzlich liefen einige Frauen herbei, zerrten ihre sich heftig sträubenden Kinder in die Häuser und verriegelten die Türen. Auf einen Schlag schien das Dorf wie ausgestorben. Reeva stand verlassen da: Es gab niemanden, der sich um sie gekümmert hätte.
Nach einer Weile hörte sie laute Stimmen vom Dorfplatz herüberwehen. Von Neugierde getrieben, hinkte sie dem Lärm entgegen – und erkannte, dass sich nahezu alle Männer hier versammelt hatten. Unbemerkt schob Reeva sich zwischen den breiten Rücken hindurch.
Dann sah das Mädchen sie: Wie das Auge eines Wirbelsturms stand inmitten der unruhigen Menge eine regungslose Gestalt, die in Lumpen gehüllt war. Den aufmerksamen Blicken Reevas entging nicht, dass die Bauern diese erbärmlich wirkende Person teils fasziniert und bewundernd, teils angstvoll und argwöhnisch anschauten.
Nun erklang eine heisere Stimme, die sich jedoch mühelos über das
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