Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Zu ihren Füßen bildete sich langsam eine Lache aus Regenwasser, die den edlen Stein zu etwas Gewöhnlichem machte.
Die Tür öffnete sich, und sie war zu langsam – nach einem Stoß in den Rücken stolperte Reeva in die Bibliothek hinein. Der Raum war ihr bereits aus einer ihrer Visionen bekannt, und genau wie damals sah sie jemanden am Fenster stehen.
„Auf die Knie vor Seiner Majestät, dem König“, befahl einer der Männer.
Reeva kniete, doch sie senkte nicht den Kopf. Langsam wandte sich die Gestalt zu ihr um, der prächtige Umhang raschelte leise.
„Lasst uns allein“, befahl eine ihr so vertraute Stimme, und dann sprach er zu ihr: „Steh auf!“
Reeva musste blinzeln, warum verschwamm alles nur so vor ihren Augen, wieder blinzelte sie und erhob sich verwirrt. Der ehemalige Prinz kam auf sie zu, und sie duckte sich vor einem Schlag – da umschloss er ihr Gesicht mit seinen Händen. „Reeva“, murmelte er, „Reeva.“
Und er erzählte: Es würde keinen Krieg gegen das Nachbarland geben. Trotz der Gefahr, den Überraschungsangriff und somit den Sieg aufs Spiel zu setzen, hatte er veranlasst, dass sich Spitzel am Hofe des fremden Königs einschlichen, und sie hatten Reevas Vorhersage bestätigt: „Längst waren kampfbereite Truppen aufgestellt worden, um uns bei unserem Feldzug zu empfangen. Alles, was du mir erzähltest, hat sich als wahr herausgestellt, Reeva. Noch befinde ich mich in Verhandlungen mit Gesandten unseres Bündnispartners, die auch ohne den Vorteil eines Überraschungsangriffs in die Schlacht ziehen wollen; doch ich werde sie schon überzeugen können. Natürlich wird es mir nicht möglich sein, ihnen den wahren Grund dafür zu nennen, weshalb ich von einer sicheren Niederlage weiß.“
Er nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte sie ruhig an.
„Aber warum?“, gelang es Reeva endlich, zu fragen. „Warum hast du mir auf einmal geglaubt?“
Der junge Mann entfernte sich einige Schritte von ihr und wandte sich wieder halb zum Fenster. Eine Weile war es still, bis er schließlich antwortete: „Weißt du noch, wie du mir vom bevorstehenden Jagdunfall meines Vaters berichtet hast? Es ist genau so gekommen. Mein Vater starb an seinen Verletzungen, und ich – ich bin nun König.“
Sein Gesicht wurde dunkel, als er das sagte. Er hat seinen Vater geliebt, dachte Reeva, trotz allem. Auch sie schwieg und lauschte auf das leise klatschende Geräusch, mit dem die Tropfen aus ihrem Haar und ihrer Kleidung auf den Boden fielen. Dann straffte sie ihre Schultern, richtete sich auf.
„Und nun?“ Dennoch kamen die Worte zaghaft heraus.
Mit wenigen Schritten war er plötzlich wieder bei ihr, kam ihr sehr nahe – dann küsste er sie. Seine Lippen waren warm und weich, und mit den Armen hielt er das Mädchen umschlungen. Reeva fühlte seinen Atem über ihre Wange streichen, während er leise sagte:
„Als König dieses Landes musste ich meine Pflicht tun und willigte ein, mich mit einer jungen Adligen zu vermählen. Aber was kann eine solche Verbindung schon bedeuten … Du hast zwar Kräfte, die ich nicht verstehe und vielleicht sogar fürchte, doch mit ihnen hast du mich und mein Volk gerettet. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand aufgrund dieser Fähigkeiten Böses tut, und ich werde dir diesen Makel verzeihen. – Reeva“, fuhr er fort, und seine Umarmung wurde fester, „erinnerst du dich an unsere vielen Gespräche? Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dir den Smaragdanhänger geschenkt habe?“
Seine Finger tasteten an ihren Hals, berührten sie leicht im Nacken.
„Du hast ihn nicht mehr? Aber das ist nun nicht von Bedeutung. Als ich dir die Kette damals umlegte, versuchte ich dir zu verstehen zu geben, dass du den Wald vergessen solltest. Ich wollte, dass du ihn nicht mehr vermisst und so auch nicht zu ihm zurückkehrst … das möchte ich immer noch.“
Und den Mund ganz nahe an ihrer Wange, sodass sie seine Lippen auf der Haut spürte, flüsterte er ihr zu: „Es kann doch wieder so werden wie früher. Es kann noch schöner werden! Bleib bei mir, Reeva. Bleib bei mir.“
Das Mädchen hörte die Worte und konnte sie doch nicht begreifen. Dann, als sie sich endlich einen Weg durch ihre Verwirrung gebahnt hatten, wurde Reeva von einer Welle aus heißem Glück erfasst, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Für einen Moment wurde ihr Körper in seiner Umarmung weich: Sie hatte ihr Leben nicht im Kreis gelebt, sondern war ihrem Weg bis hierher gefolgt,
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