Das Mädchen aus der Pearl Street
Laufschuhe! Mindestens zehn oder fünfzehn Dollar mußte sie Mutter für Unterhalt und Wohnung geben und weitere zehn für ihren Handelskurs auf die Seite legen. Es blieben ihr nur noch ein paar lose Münzen als Taschengeld für die ganze kommende Woche. Die Rechnung ging also nicht auf. Sie begann von neuem, ihren Lohn aufzugliedern, aber schließlich gab sie es auf. Auf keinen Fall durfte sie den Grundstock für ihr Schulgeld vernachlässigen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich noch eine weitere Woche mit ihren langen blauen Leinenhosen zu begnügen. Es machte ihr nicht viel aus, denn das Leben war jetzt so oder so wunderschön und wie ein Wunschtraum. Die Pausenklingel unterbrach ihre weiteren Gedanken. Dankbar griff sie nach ihrer Tasche und strebte der Kantine zu.
Heute gab es eine Menge zu diskutieren, denn morgen nachmittag wollte Dean seine erste Anzahlung auf das Auto leisten, und daraus ergab sich die brennende Frage, ob er sich für den recht stattlichen Ford aus zweiter Hand mit völlig überholtem Motor entscheiden sollte oder für das schicke Kabriolett mit rückwärtigem Dienersitz.
„Es steht außer Frage“, argumentierte Piccolo, „daß dieser
Bedientensitz seinen ganz besonderen Wert im Hinblick auf die Unterhaltung neiderfüllter Klatschmäuler hat.“
„Aber ich werde niemals den dazu passenden Diener liefern können“, lachte Dean.
„Trotzdem! Ein Bedientensitz ist Klasse. Wer sonst in der Stadt leistet sich einen? Ich wüßte niemanden.“
„Mag sein. Aber wenn ich den Ford kaufe und ihn lavendelblau spritze, so schindet er bestimmt gleichfalls Eindruck und versorgt die Klatschmäuler.“
Piccolo rümpfte die Nase.
„Schrecklich ,neureich 1 , alter Knabe. Du bevorzugst doch sonst diskretere Eleganz.“
Dean wandte sich Kitty zu. „In welchem Wagen würdest du lieber sitzen?“
Kitty kicherte geschmeichelt: „Hauptsache, er rollt.“
„Ich rechne, daß ich alle beide bis Montag abend verfügbar und fix und fertig auf der Straße haben kann“, überlegte Dean sachlich, „Zulassung, Radio und alles, was dazugehört. Dein Chauffeurdasein neigt sich dem Ende zu, Boswell.“
Kittys Augen gingen von einem zum andern. „Oh“, wunderte sie sich, „wirst du nun sein Chauffeur?“
Dean grinste. „Piccolo ist sich durchaus bewußt, daß drei Personen bereits ein Gedränge geben.“
„Außerdem habe ich eine Abneigung gegen lavendelblaue Autos“, fügte Piccolo hinzu.
„Piccolo kapiert jeglichen Wink mit dem Zaunpfahl. Piccolo strotzt stets von Takt.“
„Ja“, stimmte Kitty zu, „das ist wahr.“
Beide schauten sich einen Augenblick wortlos an, und dann redeten sie weiter über Motoren und Gelegenheitskäufe für Reifen, was Kittys freudige Aufregung zwar etwas dämpfte, aber sie wiederum auch nicht allzusehr langweilte, denn schließlich war sie es, die in Deans neuem Wagen würde fahren dürfen: jeden Morgen und — durfte sie darauf hoffen? — jeden Samstag -abend, bis er in sein College abreisen mußte! Waren sie nicht das hübscheste Paar auf der Tanzfläche gewesen? Hatte er sie wirklich geküßt? Sehr zurückhaltend zwar, das mußte sie zugeben, aber es war immerhin ein Kuß gewesen. Jeden Abend wartete er auf sie an der Kontrolluhr, und jeden Morgen fuhren sie gemeinsam mit Piccolo in die Bäckerei Sawyer und hatten viel Spaß an dem nimmer endenden, lustigen Wortgeplänkel. Deans Hand hielt wie selbstverständlich die ihre, wenn sie nebeneinander hergingen, und in seinem Blick konnte sie immer neu und immer herzlicher die Worte lesen: Du gefällst mir! Ich mag dich gern!
Er mochte sie gern, obgleich sie aus der Pearl Street kam.
8. KAPITEL
Das Kleid war aus scharlachrotem Baumwollstoff. Es hatte einen engen Rock und eine wie angegossen passende hochgeschlossene Jacke mit runden Messingknöpfen, die in strenger Marschordnung quer über die vordere Front aufgereiht standen. Kitty wirkte darin ausgesprochen orientalisch, und sie spielte mit dem Gedanken, mit dem Brauenstift ihre Augenwinkel durch einen leichten, schrägen Strich nach oben zu verlängern und zu betonen, wovon sie sich eine Art Schlitzaugeneffekt erhoffte. Sie versuchte es, aber das Resultat fiel etwas zu theatralisch aus, und sie wusch die Farbe wieder weg. Wenn man in der Terrassenstraße wohnte, konnte man es sich leisten, theatralisch zu erscheinen, aber für ein Mädchen aus der Pearl Street war die Trennungslinie zwischen gewagter Eleganz und Billigkeit so
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