Das Mädchen aus der Pearl Street
er bewundernd fest, als er ihr den Schlag aufhielt, „ausgesprochen zum Anbeißen ...“
„Hat nicht der Wolf das gleiche zum Rotkäppchen gesagt?“ lächelte sie zurück.
„Wuff, wuff!“ bellte Wolf Dean vergnügt und startete den Motor.
Das Ruderklubhaus war ein riesiges Holzgebäude am Ufer des Terrapin-Sees. Drei Veranden liefen in verschiedenen Höhen rings um den Bau herum, und wenn am Abend die Lichter brannten, sah das Ganze wie ein großes, bunt illuminiertes
Schiff aus. Im obersten Stock spielte das Orchester, das an Samstagabenden die Tanzlustigen aus der ganzen Umgebung herbeilockte. In der mittleren Veranda konnte man sich in tiefen Sesseln ausruhen und plaudern, und im Erdgeschoß wurden Erfrischungen angeboten. Die Musik hatte bereits begonnen, als Dean und Kitty ankamen.
„Ihre Mäntel, bitte!“ rief die Garderobenfrau ihnen zu.
Dean warf einen kurzen Blick auf Kitty. „Keinen Mantel?“
Sie lief dunkelrot an. „Nein. Vermutlich werde ich nachher frieren, aber daran dachte ich heute nachmittag nicht. Es war solch ein heißer Tag.“ Ob wohl Dean und die Frau ihr glaubten? Oder durchschauten sie den kleinen Schwindel und ahnten, daß sie nicht einmal eine Jacke besaß, geschweige denn einen Sommermantel? Sie biß sich auf die Lippen. Doch dann sagte Dean: „Miß Boscz, darf ich um den ersten Tanz bitten? Und um den zweiten und dritten und vierten?“ und damit hatte er die finstere Wolke, die sich über ihre Stimmung gelegt hatte, hinweggewischt. Sie lächelte und ließ sich von ihm bei der Hand nehmen. Alles war plötzlich gut und schön und wunderbar. Kitty hatte von jeher gern getanzt, aber bisher hatte sie leider allzuwenig Gelegenheit gehabt. In der siebten Klasse, als Tanzunterricht zum Stundenplan gehörte, war sie mit Begeisterung in der Turnhalle herumgehopst. Im vergangenen Winter durften zuweilen in der Mittagspause in der Schulkantine Schallplatten gespielt werden, und niemand hatte sich diese willkommene Gelegenheit entgehen lassen, geschwind ein paar Runden zu drehen. Aber noch nie war es so gewesen wie jetzt mit Dean. Ihre und seine Schritte verbanden sich meisterhaft. Es war, als berührten ihre Füße kaum noch den Boden. Gleichsam schwebend bewegten sie sich durch den Raum. Erst als die Musik endete, fanden sie wieder auf die Erde zurück.
„Alle Achtung, Kitty!“ strahlte Dean.
Sie wußte, was er empfand. „Sie tanzen wunderbar“, lächelte sie selig zurück.
„Ich?“ widersprach er, „nein, Sie.“ Und dann tat er so, als rede er mit irgendeiner dritten Person. „Dies Mädchen ist nicht nur eine vollendete Schönheit“, schwärmte er, „sie scheint auch die beste Tänzerin der Welt zu sein.“
Die Musik setzte wieder ein und vereinte die beiden aufs neue, diesmal in einem Walzertakt. Sie improvisierten neue Schritte und kleine, graziös verspielte Pirouetten einfach meisterhaft, als seien sie geübte Turniertänzer. Kitty merkte, wie andere Paare stehenblieben und die Köpfe nach ihnen drehten, aber sie wunderte sich nicht darüber, und es störte sie auch ganz und gar nicht. Es gehörte zu jenem Zauber, mit Dean tanzen zu dürfen und dabei zu fühlen, wie man hoch über sich selbst und das alltägliche Leben hinausgehoben wurde. Die Tanzfläche schien ihr plötzlich auf eine riesige Cinemascope-Filmleinwand projiziert, in deren Mittelpunkt sie und Dean Arm in Arm schwebten, wunderbar schwerelos und unbeschreiblich glücklich.
In den Pausen sprachen sie nicht viel, aber während sie auf der Veranda hin und her schlenderten, spürte Kitty, wie aller Augen sich auf sie richteten und dem hübschen Paar wohlgefällig und bewundernd nachschauten. Dann begann wieder die Musik, und nun waren Worte erst recht nicht mehr nötig. Man tanzte, man sah sich lächelnd in die Augen und drückte einander verstohlen die Hand, und das war mehr als genug. Als um Mitternacht das Orchester den Kehraus gespielt hatte, war Kitty zwar müde, aber restlos selig.
„Kommen Sie, wir wollen uns beeilen, damit wir vor dem großen Gedränge hier herauskommen“, schlug Dean vor; „gut, daß Sie keinen Mantel haben, denn die Schlange an der Garderobe ist bestimmt endlos.“
Kitty war zumute, als hätten seine Worte sie mit aller Nüchternheit in die Wirklichkeit zurückversetzt. Warum sagte er, sie habe keinen Mantel, statt, sie habe keinen mitgebracht? Krampfhaft bemühte sie sich, nicht zu zittern, als sie in die sehr kühle Nachtluft hinaustraten.
Wie wär’s jetzt
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