Das Mädchen aus der Pearl Street
— und das war noch schlimmer — er vermutete vielleicht, daß sie und Dean sich recht bald wieder versöhnen würden.
Als sie am Bijou-Kino vorbeikam, wurde sie beinahe von einem Mann umgerannt, der aus der Vorstellung kam. Es war Cy Whitney.
„Liebe Zeit, Sie haben es aber eilig!“ begrüßte sie ihn erschrocken.
„Oh, Kitty, pardon!“ Er hielt sie mit beiden Armen ein Stück von sich, als habe er sie aufgefangen. „Wo kommen Sie denn her, oder wohin soll’s gehen?“
„Heim.“
„Nach Hause! Haben Sie etwa vor, zu Fuß zu gehen—so allein im Finstern?“
„Warum nicht?“
„Weiß Thomas, daß Sie unterwegs sind?“
„Sicher!“ lachte sie.
„Thomas sollte seinen Verstand untersuchen lassen“, murmelte er rauh, „das ist ein verdammt einsamer Weg für ein Mädchen, und Thomas müßte es wissen.“
„Aber ich bin doch immer allein nach Hause gegangen, und jeden Abend zum Bus muß ich auch hier entlang.“
„Möglich. Aber auf keinen Fall sollten Sie es jetzt tun“, erwiderte er bestimmt; „kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause, ich habe meinen Wagen irgendwo am Ende der Straße geparkt.“
„Aber Cy!“
Er schüttelte energisch den Kopf. „Ich muß Ihrem Bruder wohl einiges klarlegen.“
„Nun geben Sie ja nicht etwa Thomas die Schuld!“ erhitzte sie sich. „Er hat gesagt, ich solle nicht zu Fuß heimlaufen; aber Sie wissen selbst, daß der Bus von hier zur Pearl Street einen riesigen Umweg macht und außerdem fünfzehn Cent kostet. Darum laufe ich lieber.“
„Sie sollten diese Gewohnheit ändern“, riet er ernst, „zumindest eine Zeitlang. Die Lage in der Pearl Street ist gegenwärtig reichlich gespannt und unentschieden.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich meine damit, daß ich euch unter meine Fittiche nehme, so gut ich kann, aber ihr müßt selbst auch ein wenig aufpassen. Die Familie Boscz ist in den Augen der Halbstarken zu schwarzen Schafen geworden. Wir wissen nicht, wie zum Beispiel die ‚Dämonen’ darauf reagieren, daß sie Thomas verloren haben. Außerdem bleibt noch dahingestellt, was Pussy Putnams Clique im Schilde führt, um das blaue Auge ihres Anführers zu rächen. Vielleicht wagen sie gar nichts, vermutlich renkt sich alles in Ruhe und Frieden ein. Aber wir wollen diesmal lieber vorsichtig sein, und da Sie ein Mitglied der Familie Boscz sind, sollten Sie sich auf alle Fälle auch hüten.“
Sie schauderte. „Daran hatte ich nicht gedacht.“
„Danny hat beachtlich viel Mumm gezeigt, aber dafür sind sie nun wohl allesamt gereizt, diese Burschen. Es wäre höchst unklug, wenn Sie im Dunkeln allein in Eisenbahnunterführungen spazierengingen —, es hieße geradenwegs das Schicksal versuchen!“
Pearl Street! dachte Kitty voll Bitterkeit, aber sie schwieg und hoffte um so eindringlicher, bald hier wegziehen zu können. Sie hatte das ganze widerliche Treiben restlos satt. Diese Straße war eine Bestie, die auf der Lauer lag, um jeden zu verschlingen, der anständig leben wollte. Man müßte jede Woche zwei
Lohnschecks zur Verfügung haben, den von Mutter und den ihren, überlegte sie. Wenn sie ihren Wunsch zum Besuch des Handelskurses aufgab oder zumindest bis auf weiteres aufschob und auch den Winter über in der Fabrik blieb, dann konnte man vielleicht ———?
„Cy“, brach sie plötzlich ihren Gedankengang ab und fragte unvermittelt, „was meinen Sie, wie lange es dauern wird, bis Thomas in seinem Laboratorium einigermaßen gut verdient?“
Cy lenkte bedächtig den Wagen an die Bordschwelle heran und lehnte sich dann zu Kitty hinüber.
„Sehr, sehr lange — hoffentlich!“ antwortete er ihr dann.
Sie starrte ihn verständnislos an. „Wieso? Was meinen Sie damit? Er sagte mir doch, daß eine gutbezahlte Stelle im Laboratorium auf ihn warte, sobald er seine High School-Ausbildung beendet habe. Sie selbst haben es ihm versprochen, oder etwa nicht?“
Cy stellte den Motor ab und schaute ihr dann offen ins Gesicht. „Ich weiß, was ich ihm gesagt habe. Und ich möchte mich nun mit Ihnen darüber unterhalten, Kitty.“
„Über was?“
„Über Thomas.“
Ihre Lippen spannten sich. „Schön, reden Sie!“
„Sie waren dabei, als er Danny droben am Bahndamm untersuchte. Haben Sie gewußt, daß er sein ganzes Leben lang den Wunsch gehegt hat, Arzt zu werden?“
„Ich weiß es jetzt.“
Er nickte gewichtig. „Ich habe bisher Thomas noch nichts davon verraten, ich meine von dem, was wir jetzt besprechen werden. Ich will
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