Das Mädchen aus der Pearl Street
innerlich reicher und damit reifer zu werden. Ich würde das nicht als ,leben’ bezeichnen, oder tun Sie es vielleicht?“
„Nein“, nickte Kitty, „ich weiß jetzt, was Sie meinen.“ Clovis sprach weiter: „Manchmal bekümmert es mich richtig, daß es so viele Bücher gibt, die zu lesen ich nie die Zeit haben werde, weil ich einfach nicht lange genug leben werde. Und so viele Landschaften und Städte, die ich nie sehen kann, und Menschen, denen zu begegnen sich vielleicht lohnte...“
„Ich fürchte“, gab Kitty leise zu, „daß ich selbst nicht allzu viel gelernt habe. Ich dachte immer, daß mir mit der Tatsache, daß ich nicht aufs College kann, auch das Recht auf höheres Wissen verschlossen sei.“
„Lieber Himmel!“ rief Clovis und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, „wo Sie so jung sind. Ich halte Sie höchstens für siebzehn!“
„Achtzehn!“
„Nun, ich bin sechsundzwanzig. Ich bin Ihnen um ein paar Pferdelängen voraus, das ist alles. Unterschätzen Sie sich nicht! Wenn Sie nicht jene angeborene Neugierde in sich spürten, dann wären Sie heute nicht hergekommen, um mich zu besuchen, stimmt es?“
Kitty wurde rot.
„Sie brauchen sich nicht dafür zu entschuldigen“, versicherte Clovis, „aber es ist schon so. Cy hält große Stücke auf Sie, wissen Sie das? Er sagt, Sie seien eine echte Kämpfernatur; wenn Sie etwas bedrückt und zornig macht, dann stellen Sie Fragen nach dem Grund. Nun, und jemand, der fragt, wird die Antwort suchen, bis er sie gefunden hat. Sie sind noch immer mit der Frage beschäftigt, warum es Pearl Streets in der Welt gibt, aber wenn Sie einmal die Antwort dafür wissen und sehen, was man dagegen tun kann, dann sind Sie vielleicht so weit in die Gewohnheit des Fragens und Antwortsuchens gekommen, daß Sie sich dafür interessieren, warum die Chinesen mit Stäbchen essen oder warum Schubert seine achte Sinfonie nicht beendet hat. Und dann, mein Kind, gibt es kein Zurück mehr; dann ist die ganze Welt ein einziges wunderbares Rätsel geworden, und die Wißbegier macht das ganze Leben anregend und prickelnd wie Sekt.“
„Ist es das, was Sie so--so anders macht?“ fragte Kitty scheu.
Clovis schaute verwundert auf. „Ich bin nicht anders als jeder hier, außer vielleicht, daß meine Haut dunkel ist.“ Sie sagte es sachlich und ohne jede Bitterkeit.
„Oh, das habe ich nicht gemeint“, versicherte Kitty, „es war die Art, wie Sie mich bei der ersten Begegnung anschauten, so __ja, so, als seien Sie wirklich interessiert an mir und an allem, was ich fühle.“
„Nun, jeder Mensch ist wichtig und interessant“, erklärte Clovis sanft, „jeder einzelne Mensch.“
Kitty glaubte ihr. Sie war um sieben Uhr für einen kurzen Besuch hergekommen, und nun war es ein Viertel nach neun, als sie mit einem Stoß Bücher im Arm und vielen neuen Ideen und Anregungen die steile Treppe wieder hinunterbalancierte. Sie war in Gedanken so mit der Unterhaltung und den Argumenten und Antworten beschäftigt, daß sie beinahe ihren Bus verpaßt hätte. Ihr war fast schwindelig, aber trotzdem fühlte sie sich wundersam belebt. Es war, als habe sie bis jetzt ständig ungehört an eine Tür geklopft, die Clovis ihr heute geöffnet hatte. Das alles gehörte also zu dem Geheimnis, zu der Erkenntnis, an der Leute wie Cy und Clovis teilhatten: es war unwichtig, wo man wohnte und was für Kleidung man trug oder welche Arbeit man verrichtete; das einzig Bedeutende war, was man aus sich selbst machen konnte!
13. KAPITEL
Dean gab nicht ohne weiteres auf. Er spielte mehrere Nächte lang beleidigt, aber dann trat er in der Pause doch wieder auf Kitty zu, hatte wohlformulierte Entschuldigungen parat und außerdem eine neue Tanzeinladung. Die Gleichgültigkeit, die sie ihm entgegenbrachte, schien sein Interesse an ihr erst recht zu wecken, aber inzwischen hatte Kitty sich daran gewöhnt, jeden Morgen nach der Arbeit mit dem Bus nach Hause zu fahren. Es war ihr zum Bedürfnis geworden, nach all dem Lärm allein zu sein. Die Stille der Morgendämmerung war wie süße, weiche Musik nach dem Quietschen und Poltern der Maschinen. Selbst wenn es regnete, genoß sie diese Stunde, denn dann war es besonders kühl. Manchmal fühlte sie sich ebenso ausgetrocknet und spröde, wie die Erdkrumen ringsum es nach der sechsten Hitzewelle dieses Sommers waren. Zwar schluckte sie gewissenhaft regelmäßig Salzpillen und wusch ihr Gesicht mehrmals während der Nacht mit Eiswasser, aber
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