Das Mädchen aus der Pearl Street
begann gleich beim Eintritt wieder mit seinem gefährlichen Galopp. Errötend kletterte sie auf einen der hohen, runden Hocker und legte ihre Tasche neben sich. Wie lange konnte man an einem Eiscreme-Soda schlürfen? Dreißig Minuten höchstens! Dreißig Minuten lagen also vor ihr, in denen sie ihn sehen und vielleicht ein paar Worte mit ihm wechseln durfte, ehe sie wie das Aschenbrödel wieder in ihre eigene, farblose Welt zurücktauchen mußte. Es war gleichgültig, ob er sie bemerkte oder nicht; es genügte, hier mit ihm im gleichen Raum zu sein. Es war, als habe man lange Zeit gefroren und sitze nun plötzlich in der warmen Sonne oder als habe mein Schmerzen gehabt und irgendeine barmherzige Seele streiche eine kühlende Salbe auf die Wunde. Piccolo konnte alles Schöne und Gute für sie zaubern. Sie erkannte den großen Unterschied, ob man in jemanden nur verliebt war oder ob mein einen Menschen wirklich liebhatte. Wenn man liebte, dann liebte man den andern, so, wie er war; eine Schwärmerei dagegen schmeichelte den eigenen Wünschen, man gaukelte sich selbst etwas vor und bildete sich ein, der Partner sei so, wie man ihn vielleicht gern gesehen hätte.
Jetzt hatte Piccolo sie bemerkt. Kitty lief scharlachrot an und heftete ihre Augen krampfhaft auf die Getränkekarte. Außer ihr saß nur noch ein anderer Kunde an der langen Theke, denn es war noch zu früh für das Gedränge der Kinobesucher, die nach dem Film noch etwas naschen wollten, und die, die hier ihre Abendmahlzeit einnahmen, waren alle schon abgefüttert. Piccolo trat langsam auf sie zu, und Kitty zwang sich ernstlich, ruhig zu bleiben.
„Nun, nun“, lächelte er ihr zu, „ich hätte dich niemals hier vermutet. Wo hast du denn Dean geparkt?“
„Dean?“ stammelte sie erschrocken, „oh, ich habe ihn schon seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen--außer gelegentlich in der Fabrik.“
„Wirklich?“ Es klang überrascht. „Habt ihr euch denn gezankt?“
„Hmmm! — Was ich jetzt brauche, ist ein Schlemmerbecher mit Schlagsahne und Nüssen, nimm Erdbeereis dazu, bitte!“ Das war nämlich die größte Portion, die es gab, und sie konnte in Ruhe vielleicht sogar vierzig Minuten daran herumschlecken. „Ich hätte dich hier auch nicht vermutet“, nahm sie dann das persönliche Gespräch mit ihm wieder auf.
Piccolo machte sich eifrig am andern Ende der Theke zu schaffen. Es war schrecklich, und sie war restlos zerknirscht. Er dachte also, sie habe sich mit Dean gezankt und laufe deshalb mit dieser Nachteulenmiene umher. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, ihm alles zu sagen, wie es begonnen hatte und wie es ausgegangen war. Nicht, daß er sich vermutlich dafür interessierte, aber es hätte immerhin die Lage geklärt. Piccolo kam zurück und stellte eine mächtige Plastikschüssel vor sie hin, in der ein wahres Gebirge von Eis und Sahne und Merinkenschnörkeln und Nüssen thronte.
„Liebe Güte!“ schnaufte sie bei diesem üppigen Anblick.
„Tolle Portion, wie?“ lachte er gönnerhaft. — „Wie geht’s Danny?“
„Danke“, antwortete sie kurz, denn er wußte es so gut wie sie, „Montag kann er wieder arbeiten gehen.“
„Fein.“
„Du bist wirklich sehr nett zu ihm gewesen.“
Er zuckte die Achseln. „Nun, ich weiß, wie es tut. Ich mußte fast ein ganzes Jahr das Bett wegen Kinderlähmung hüten, als ich in seinem Alter war, das erklärt übrigens auch, warum ich eines der bemoostesten Häupter unserer High School-Klasse gewesen bin. Ehret das Alter!“
„Das habe ich gar nicht gewußt“, murmelte sie.
Er runzelte die Stirn und wollte etwas sagen. Aber dann hielt er es offenbar für besser, den Mund zu halten.
„Nun, bis dann“, lachte er ihr zu und überließ sie ihrem Eiscreme-Ungeheuer. Leider fielen ihr jetzt erst all die schönen, klugen Worte ein, die sie vorhin hätte sagen können. So ging es
immer. Der Drug-Store fing langsam an, sich zu füllen. Piccolo hatte nun zu tun, aber es schien, als käme er doch noch einmal zu Kitty heran. Sie täuschte sich. Er winkte ihr nur von weitem zu, als sie ihre Schüssel geleert hatte. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzustehen und zur Kasse zu gehen. Ihr war, als stände sie unter einer eiskalten Dusche, wie sie, den Rücken ihm zugekehrt, ihre Zeche bezahlte. Er mußte sie für eine alberne Gans halten, vorausgesetzt, daß er sich überhaupt mit ihr in Gedanken beschäftigte. Sicherlich beglückwünschte er im stillen Dean, daß er sie los war, oder
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