Das Mädchen aus der Pearl Street
trotzdem sehnte sie sich nach Frische und Kühle, wenn sie morgens der Fabrik entfliehen durfte. Ihre einzige Freude war der Samstagabend. Wenn man jede Nacht in solcher Hitze schaffen mußte und sich dann am Tag schlaflos im Bett herumwälzte, wurden diese freien Stunden an einem Abend unendlich kostbar. Sie pflegte auf den Stufen vor dem Haus zu sitzen und sich von der köstlichen Kühle umfächeln zu lassen. Es war, als sauge ihr Körper diese Frische in sich hinein, wie ein Durstiger nach Tagen ohne Wasser ein kaltes Getränk genießt. Noch nie zuvor hatte sie die Nachtstunden so geliebt wie jetzt, da sie ihr nur einmal in der Woche gehörten.
„Du wirst uns wohl noch trübsinnig?“ neckte Thomas, als er sie am Samstagabend so sitzen sah. „Im Ernst, Kitty, du solltest ausgehen, mit irgend jemandem, meinetwegen sogar mit Dean, statt hier wie eine alte Tante zu sitzen und Sonnenuntergänge zu betrachten.“
„Mag sein. Für mich ist aber heute abend ein Sonnenuntergang der angenehmste Anblick, den ich mir denken kann, denn ich weiß, daß ich nachher ins Bett gehen und die ganze Nacht durchschlafen darf wie ein normaler Mensch. Es ist ein herrliches Gefühl!“
„Du spinnst! Du bist ausgesprochen verdreht!“
„Ich stimme dir durchaus zu, Thomas!“
„Ha?“ machte Thomas betroffen, denn diese Antwort hatte er nicht erwartet. Er drehte sich um und ging ins Haus zurück. Unter der Tür kehrte er nochmals um, denn er glaubte einen weiteren Versuch machen zu müssen, die Schwester wieder normalen Menschen zuzuführen.
„Das Perry-Como-Programm fängt eben an, Kitty“, rief er einladend, „und ich habe einige Flaschen Coca-Cola kühlgestellt.“
Aber Kitty war völlig eingenebelt von ihren eigenen Gedanken, die erst alle beachtet und geordnet werden wollten, ehe sie weitere Eindrücke in sich aufnehmen konnte. Thomas war gestern zum erstenmal in sein Laboratorium gegangen und pfeifend und ausgeglichen zurückgekommen. Niemand von ihnen hatte Fragen gestellt, denn Thomas war von Natur aus ein sehr stiller Mensch, der seine Gefühle am liebsten für sich behielt. Man mußte ihm Zeit lassen, und irgendwann ließ er dann in einer besonderen Stunde einmal in sich hineinschauen; fürs erste genügte es, seine Augen so hell und strahlend zu sehen.
Und Piccolo! Er hatte noch zweimal Danny besucht, aber jedesmal hatte er die Zeit gewählt, in der Kitty arbeitete oder schlief. Am 15. September würde er nach New York abreisen. Ein Teil von ihr selbst würde dann sterben, das spürte sie, aber — so war das Leben nun einmal. Ohne ihn zu kennen, wäre sie vielleicht niemals richtig zu diesem Leben erwacht und hätte nie um wesentlichere Werte gewußt und nach ihnen gestrebt als nach jener Welt, die ein Dean Tracy vertrat.
Und das Gemeindehaus! Gestern hatte sie zum zweitenmal dort geholfen. Die drei Stunden vergingen diesmal viel schneller, und als es Zeit zum Heimgehen war, hatte ein kleines Mädchen mit riesigen, runden Augen sich an ihr festgeklammert und ihr einen schmatzenden Kuß gegeben. Clovis hatte dazu gelacht und anerkennend bemerkt: „Sie scheinen eine wirkliche Eroberung gemacht zu haben, Kitty; Molly mag Sie zweifellos!“
Kitty spürte noch jetzt das beglückende Gefühl der Befriedigung; zum erstenmal in ihrem Leben schien sie etwas verdient zu haben, das mehr zählte als Geld.
Wieder unterbrach Thomas ihre Grübeleien. Er streckte den Kopf aus der Tür und rief ihr betont gleichgültig zu: „Übrigens, Kitty, ich habe heute Piccolo im Gemeindehaus gesehen und ihn nebenbei gefragt, wo er jetzt arbeitet. Er schüttelt Soda-Getränke im Drug-Store. Samstag abends hat er von fünf bis Mitternacht Dienst.“
„Thomas!“ stammelte sie.
„Und zu denken, daß es jetzt erst zehn nach acht ist!“ setzte er neckend hinzu.
„O Thomas! Wenn ich ihn nur ein paar Minuten sehen kann! Wo ist meine Handtasche?“
„Nimm den Bus nach Hause!“ riet Thomas.
„Ja, ja, ja!“ schrie sie atemlos und legte Lippenstift auf, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, zum Spiegel zu laufen. „Thomas, du bist ein Engel! Ein richtiger Engel! Tausend Dank!“
„Ich würde das gleiche für einen Eskimo tun!“ rief er brüderlich hinter ihr her, aber sie hatte schon die Tür zugeschlagen und flog buchstäblich die Straße hinunter.
Da stand Piccolo hinter der Theke im Drug-Store, genau wie Thomas gesagt hatte. Er wirkte etwas fremd in seiner weißen Uniform mit der weißen Mütze und Schürze, aber Kittys Herz
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