Das Mädchen aus Mantua
logiert. Von ihrem Zimmer im Haus ihrer Eltern in Venedig hatte sie auf einen Kanal geblickt, und von ihrer Ehewohnung in Mantua aus auf einen stinkenden kleinen Hinterhof. Hier jedoch reichte ein breites, mit blühenden Ranken bewachsenes Holzspalier direkt bis an ihr Fenster und ließ frischen Duft von draußen hereinwehen, und unten im Garten wuchsen Jasmin, Flieder und Mandelbäumchen.
Die neue Umgebung ließ kaum zu wünschen übrig.
Arcangela betrachtete sich in dem großen Spiegel, der neben der Kommode im Schlafraum hing. Mit beiden Fingern fuhr sie sich durchs Haar. »Ich könnte ein Bad vertragen, bevor ich mich umziehe. Und ich habe Hunger. Du auch?«
»Hm«, machte Celestina geistesabwesend. Ihr Blick wurde von einem weiß blühenden Fliederbaum angezogen. Ein Hauch des Duftes stieg ihr in die Nase und erinnerte sie daran, dass Jacopo und sie sich damals unter einem Flieder das erste Mal geküsst hatten. Dort hatte er ihr auch den Heiratsantrag gemacht. War das wirklich erst zwei Jahre her? Es kam ihr vor, als sei seitdem eine Ewigkeit verstrichen. Sie rieb sich hastig über die Augen, damit ihr gar nicht erst die Tränen kamen. Sie hasste sich, wenn sie heulte, und sie hatte es bisher noch fast immer vermeiden können, deshalb würde sie hier und jetzt bloß wegen eines Fliederbaums nicht damit anfangen.
Arcangela hatte das Gemach verlassen. Celestina hörte, wie sie sie nach den Dienstmädchen rief. Ihre Stiefschwester zögerte nicht, sich die neue Umgebung untertan zu machen, das war ihre Art.
Celestina machte sich ans Auspacken. Es traf sich gut, dass niemand sie dabei beobachten konnte. Vor Arcangela hatte sie keine Geheimnisse, doch vor den Verwandten und dem Gesinde galt es, gewisse Umstände unbedingt zu verbergen.
Da war zunächst die kleine Truhe mit den besonderen Kleidungsstücken. Ein Vorhängeschloss sorgte dafür, dass niemand außer ihr sie öffnen konnte, sei es aus Versehen oder Neugier. Celestina schob sie kurzerhand unter ihr Bett, bevor sie die andere Truhe heranzog, die ungleich größer und schwerer war. Morosina und Margarita hatten sie vorhin unter Aufbietung aller gemeinsamen Kräfte kaum die Treppe hinaufbefördern können. Diese Truhe war ebenfalls mit einem Schloss gesichert. Der Inhalt war nicht so geheim wie jener in der anderen Kiste, aber von hohem persönlichem Wert.
Celestina zog die Kette mit den Schlüsseln aus ihrem Ausschnitt und beugte sich vor, um die Truhe zu öffnen.
Als sie die Bücher sah und ihren staubigen Geruch einatmete, wollten ihr wieder die Tränen kommen, und abermals fuhr sie sich unwillig mit dem Handrücken über die Augen, bis der dumme Drang zu heulen aufhörte. Mit der anderen Hand nahm sie einen der Bände heraus und prüfte, ob er den Kutschenunfall gut überstanden hatte. Es war eine zerlesene Ausgabe des Operum Galeni , Jahrzehnte alt und unzählige Male durchgeblättert. Auf vielen Seiten hatte Jacopo Anmerkungen an den Rand gekritzelt, eigene Beobachtungen, teilweise vom Inhalt des Buchs abweichende, teils ihn bestätigende, manchmal auch Querverweise zu den Schriften des Andreas Vesalius, der sich kritisch mit dem Werk von Galenus auseinandergesetzt hatte. Vesalius’ Fabrica gehörte ebenfalls zur Büchersammlung, genauso zerfleddert wie die übrigen Bände, desgleichen eine kostbare, erst im vergangenen Jahr erschienene Ausgabe von Girolamo Fabrizio d’Acquapendentes De formatu foetu , ein reich bebildertes Werk der Embryologie. Jacopo hatte es erst kurz vor seinem Tod erworben, er war nicht mehr dazu gekommen, es zu lesen. Celestina schob es zur Seite und holte stattdessen weitere Bände hervor. Schriften des Falloppio, des Pozzo und des Montanus und einige andere. Sie kannte sie allesamt in- und auswendig, trotzdem wurde sie nie müde, darin zu lesen. Jacopo hatte ihren Eifer oft nachsichtig belächelt, doch nie hatte er versucht, sie davon abzuhalten, im Gegenteil. Sooft es seine Mittel erlaubten, hatte er neue Bücher gekauft.
»Eines Tages kannst du wohl selbst eines schreiben«, hatte er einmal gutmütig gemeint. »Das Buch der Bücher, die Essenz dessen, was alle wichtigen Ärzte je niedergeschrieben haben.« Lachend hatte er hinzugesetzt: »Natürlich ohne deren Fehler.«
Arcangela kam zurück ins Zimmer und legte frische Kleidung bereit. Summend schüttelte sie ein Gewand aus und legte es zusammen mit einem Unterkleid aufs Bett. Über die Schulter meinte sie zu Celestina: »Und, haben deine kostbaren Schätze den
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