Das Mädchen aus Mantua
verhindern, dass er zum Mörder wird.«
»Oh«, sagte Marta. Sie dachte kurz nach, dann nickte sie. »Das zeugt von Mitgefühl. Jemand, der heilend wirkt, braucht viel davon. Mitgefühl ist die wichtigste Charaktereigenschaft eines guten Heilers.«
»Mitgefühl gegenüber einem Caliari ist schwachsinnig«, widersprach die alte Immaculata. »Sie hätte ihn totschlagen sollen. Nur tote Caliari sind gute Caliari.«
»Da hast du unbedingt recht«, sagte Marta nachdrücklich.
Celestina fand, dies sei eine passende Gelegenheit für einige Fragen. »Wie kam es überhaupt zu dem Zerwürfnis zwischen den Bertolucci und den Caliari?«
»Das ist eine ganz alte Geschichte«, sagte Immaculata. »So alt, dass keiner sie mehr kennt.«
Marta wandte sich unruhig zur Tür. »Wo sind eigentlich die Kinder? Sollten sie nicht längst wieder zu Hause sein?«
Celestina ließ sich nicht so schnell vom Thema abbringen. »Mir erschien die Feindschaft heute Nachmittag sehr frisch. Es gab sogar Tote.«
»Das war Zufall«, erklärte Gentile. »Ein paar ausländische Studenten wollten ihr Mütchen kühlen und brachten ihre Degen ins Spiel. Mit den Bertolucci oder den Caliari hatten sie im Grunde nichts zu tun.«
»Aber ihr müsst doch wissen, warum die Familien miteinander in Fehde liegen!«
»Manche Streitigkeiten haben ihre Ursprünge so tief in der Vergangenheit, dass der eigentliche Grund nebensächlich geworden ist«, sagte Gentile mit lakonischem Unterton. Er sah dabei Lodovico an, der seinen Blicken rasch auswich. »Es geht dann nur noch ums Streiten an sich«, fuhr Gentile fort. »So ähnlich wie bei den Venezianern und den Osmanen. Sie hassen einander seit ewigen Zeiten, also führen sie Krieg bei jeder sich bietenden Gelegenheit.«
Gentile legte sodann eingehend die Gründe dar, warum Venezianer und Osmanen sich seit jeher bekriegt hatten. Lodovico schenkte derweil den Frauen Wein nach, und Marta rief nach den Hausmädchen, damit diese den nächsten Gang auftrugen. Es war nicht zu übersehen, dass sich niemand näher über die Feindschaft zwischen den Caliari und den Bertolucci auslassen wollte.
Bis zum Eintreffen der beiden Sprösslinge der Familie Bertolucci wurde das Mahl ohne weitere Fragen fortgesetzt. Guido und Chiara kamen rechtzeitig zum Hauptgang nach Hause. Sie nahmen ihre Plätze bei Tisch ein und sprachen mit Appetit dem Essen zu. Beide waren in sichtlich aufgekratzter Stimmung. Chiaras Wangen waren rosig durchblutet, ihr blondes Haar auf kleidsame Weise zerzaust. Ihr Bruder Guido sah ganz ähnlich aus. Sie hatten eine Bootsfahrt auf der Brenta unternommen und waren anschließend im Botanischen Garten spazieren gewesen.
»Es war wundervoll«, schwärmte Chiara. »Die vielen Blumen!«
»Ja, es war ein Traum!«, stimmte Guido zu. »Es geht nichts über einen Ausflug im Mai!«
Celestina fragte sich, wieso dieser Ausflug einen so eiligen Aufbruch erfordert hatte. An Arcangelas irritierten Seitenblicken bemerkte sie, dass es ihrer Stiefschwester ebenfalls aufgefallen war.
Später, als sie nach dem Vespermahl in ihre Gemächer zurückkehrten, sprachen sie darüber.
»In diesem Haus scheint jeder seine Geheimnisse zu haben«, meinte Arcangela.
»Uns eingeschlossen«, antwortete Celestina.
»Damit hast du recht«, sagte Arcangela, während sie vor dem Wandspiegel ihr Haar ausbürstete, das im Schein der Abendsonne die Farbe von Flammen hatte. Das Haarebürsten gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, je öfter, desto lieber. Sie behauptete, es helfe ihr beim Denken, weil es das Hirn stimuliere. Celestina war allerdings der Meinung, dass es Arcangela dabei eher darum ging, in den Spiegel zu schauen, ebenfalls eine Lieblingsbeschäftigung von ihr.
»Immerhin eines der Geheimnisse haben wir gelüftet«, fuhr Arcangela fort. »Wir wissen jetzt, warum wir eingeladen wurden. Genauer, warum du eingeladen wurdest. Diese schweinsgesichtige Tante Marta hat eine hypochondrische Ader. Sie strebt nach kostenloser medizinischer Dauerbehandlung. Da sehe ich einiges auf dich zukommen.«
Celestina bewunderte einmal mehr den Scharfblick ihrer Stiefschwester. Keiner machte Arcangela so schnell etwas vor. Außer natürlich, wenn es um Männer ging. Damit brachte sie sich regelmäßig in Schwierigkeiten, was auch der Grund für die überstürzte Abreise gewesen war. Nur ein Tag länger in Mantua, und es wäre womöglich zu einer Katastrophe gekommen.
Arcangela zupfte die Falten ihres Gewandes zurecht und prüfte den Sitz ihres
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