Das Mädchen aus Mantua
Bertolucci auch war – seine Nichte mochte ihn.
Dieses Mädchen aus Mantua, Chiaras Cousine, hätte sich also getrost sparen können, ihn unter Einsatz des Knüppels daran zu hindern, Gentile ein Leid zuzufügen. Timoteos Groll auf sie hatte kaum nachgelassen. Tagelang hatte ihm der Kopf gebrummt, und die Beule war immer noch deutlich zu fühlen.
Er überquerte einen kleinen Platz, schritt an einem verwitterten Denkmal vorbei und näherte sich dann der Gasse, in der sich das Haus der Bertolucci befand.
Dort blieb er stehen, obwohl es besser gewesen wäre, rasch weiterzugehen. Der Himmel allein wusste, warum er auf einmal hier stand. Nun ja, wenn er ehrlich war, wusste es nicht nur der Himmel, sondern auch er selbst. Und zwar sehr genau.
Er hoffte, einen Blick auf Chiara zu erhaschen.
Der Balkon von ihrem Zimmer war von der Gasse aus zu sehen. Einmal, vor etwa vier Wochen, hatte er sie bei Nacht dort stehen und in den Garten blicken sehen, das helle Haar und das feengleiche Antlitz in Mondlicht gebadet. Sie hatte ihn ebenfalls gesehen und ihm zugelächelt. In dem Augenblick war seine Liebe zu ihr erwacht.
Das zweite Mal hatte er sie im Botanischen Garten getroffen, in der Woche darauf, ganz zufällig, als er mit einer Gruppe Studenten unter Anleitung des Professors für Heilpflanzenkunde das Areal mit den medizinischen Kräutern besichtigt hatte. Sie hatte mit ihrem Bruder und einem anderen Burschen, den Timoteo nicht kannte, unter einem großen Tropenbaum gestanden. Und ihm abermals zugelächelt. Bis es ihrem Bruder auffiel und dieser sich mit feindseliger Miene vor seine Schwester schob. Timoteo hatte so getan, als bemerke er es gar nicht, obwohl er an einem anderen Tag bestimmt nicht gezögert hätte, Guido Bertolucci eine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Sein Herz hatte bis zum Hals geschlagen, er hatte danach in jeder stillen Minute an sie denken müssen. An ihre zarte Haut, die himmelblauen Augen und das seidige Haar.
Die nächste Begegnung hatte nicht der Zufall bestimmt. Sie war sorgfältig von Timoteo herbeigeführt worden. Er hatte herausgefunden, dass der Bursche, der mit ihr und ihrem Bruder im Park gestanden hatte, ein Maler war, der die Geschwister porträtierte. Gemeinsam mit Guido suchte sie ihn zwei Mal in der Woche auf. Ihr Bruder blieb jedoch nicht zu den Sitzungen dort. Er begleitete seine Schwester zwar regelmäßig ins Haus des Malers, kam aber jedes Mal kurz darauf wieder heraus und ging seiner Wege. Chiara verließ das Haus meist eine gute Stunde später und wartete anschließend in einem versteckten Winkel hinter der nahen Kirche auf ihren Bruder.
Dort hatte Timoteo sie das erste Mal allein getroffen, von Angesicht zu Angesicht. Ihre erschrockenen Blicke hatte er mit einem besänftigenden Lächeln erwidert, ihre Furcht mit einer höflichen Begrüßung zerstreut. Sie hatten sich unterhalten, ganz unverfänglich, über das Wetter, die Pflanzen im Botanischen Garten, die Kutsche mit dem prächtigen Gespann, die sie vorbeifahren sahen. Die ganze Zeit hatte sie verschämt zu Boden geblickt, doch er hatte ihre Neugier und ihre freundliche Hinwendung gespürt und vor lauter Glücksgefühlen kaum atmen können.
Drei weitere Male hatte er Chiara dort getroffen, immer wenn sie von dem Porträtmaler kam. Er hatte sie gefragt, wo sich ihr Bruder während dieser Zeit herumtrieb, doch sie war nur errötet und hatte irgendetwas gestammelt, bis er sich schließlich ein Herz gefasst und nach ihren Händen gegriffen hatte. Diese erste Berührung war ihm durch und durch gegangen, und hätte in diesem Augenblick nicht ein Hund angefangen, ohrenbetäubend zu bellen, hätte Timoteo vielleicht sogar gewagt, Chiara zu küssen. Die ganze Zeit hatte er es schon vorgehabt und sich dabei ausgemalt, wie es wohl wäre, seinen Mund auf den ihren zu legen. Doch dieser vermaledeite Kläffer hatte alles verdorben. Und dann schlug die Uhr zur vollen Stunde, womit das Treffen vorbei war, denn danach dauerte es immer nur wenige Minuten, bis Guido auftauchte, um seine Schwester abzuholen. Timoteo achtete stets darauf, vorher zu verschwinden. Nicht etwa aus Feigheit, sondern aus Rücksicht auf Chiara.
Seit jenem Nachmittag hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie war nicht mehr zu dem Maler gegangen.
Jetzt wagte er doch einen Blick auf das Haus. Im Licht einer Fackel, die an der Einmündung der Gasse brannte, war der Balkon zu sehen, nicht aber Chiara. Enttäuscht wollte er sich wieder abwenden und weitergehen, als er
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