Das Mädchen-Buch
Nervenbahnen
Für manche Familien es ist sehr entlastend, zu wissen: Der Körper der jungen Mädchen ist im Umbruch. Die zusätzliche Hormonproduktion und die komplette Neuverkabelung der Nervenverbindungen im Gehirn lassen sie Achterbahn fahren. Keiner kann etwas dafür.
Im Gehirn wird der Startschuss für die Produktion zweier Hormone gegeben: Das luteinisierende Hormon (LH) und das follikelstimulierende Hormon (FSH). Die zwei sind in den Eierstöcken aktiv. Das beginnt schon mit etwa acht Jahren. Sie bewirken, dass die Eizellen reifen. Und sie regen die Sexualhormone an: die Östrogene und das Testosteron. Während der gesamten Pubertät steigt dann die Konzentration der Sexualhormone. Erst wenn sie so hoch ist wie bei einem Erwachsenen, schaltet sie auf »Normalbetrieb«.
Und im Gehirn werden ständig neue Verbindungen zwischen den Nervenbahnen gelegt. Diese sogenannten »Synapsen« bilden | 180 | sich wieder zurück, wenn sie nicht gebraucht werden. Es ist also schwer was los, und dazu kommt: Die gesamte Reifung des Gehirns geschieht von hinten nach vorn, das heißt vom Kleinhirn bis zum Stirnlappen. Vernünftige Entscheidungen werden im Stirnlappen getroffen, behaupten Neurowissenschaftler. Aber: Die Reifung des jugendlichen Gehirns ist noch nicht so weit. Das führt dazu, dass der Mandelkern, die sogenannte Amygdala, aushilft. Sie ist aber der Bereich im Gehirn, der Gefühle wie Angst oder Wut reguliert. Und das wiederum ist der Grund, warum Jugendliche ihre Entscheidungen nicht rational treffen, sondern sich, trotz besseren Wissens, impulsiv, gefühlsgeleitet und risikoreich verhalten. 76
Bei Lena fand schon, als sie fünfzehn war, eine Wandlung statt. Sie hat zumindest für sich einen Weg gefunden, mit der Ablösung von den Eltern gelassener umzugehen:
»Heute reg ich mich nicht mehr so auf, wenn sie sagen, ich wär egoistisch. Früher wollte ich nicht ›Nein‹ sagen. Dann habe ich stattdessen gesagt: ›Ich bin mal schnell auf der Toilette‹ und bin nicht wiedergekommen. Jetzt kann ich besser ›Ja‹ und ›Nein‹ sagen. Man muss für sich einen Weg finden, mit Familie, mit Freunden, das ist bei jedem anders.«
LENA, 15 JAHRE
Wenn die Fetzen fliegen
Die 15-jährige Sina möchte am Wochenende auf eine Party gehen und dort auch übernachten. Der Gastgeber ist achtzehn, und Sinas Eltern kennen ihn nicht. »Übernachten kommt nicht infrage«, sagt der Vater. »Wieso nicht, alle anderen dürfen doch | 181 | auch«, entgegnet Sina. »Weil wir die Leute nicht kennen, und außerdem sind sie viel älter als du«, argumentiert der Vater. »O Mann, immer das Gleiche«, empört sich Sina. »Ja, so ist es.« Der Vater bemüht sich um eine ruhige Stimme. »Arschloch«, rutscht es da der Tochter raus, und dann geht es auch mit Sinas Vater durch: »Jetzt ist aber Schluss! Du spinnst wohl! Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?« Sina legt nach: »Du Asi, nie darf ich etwas«, und jetzt ist der Vater auf 180: »Du unverschämtes Stück, mach dass du auf dein Zimmer kommst!«
Was ist passiert? Sina war nicht einverstanden mit der Entscheidung der Eltern und sie macht ihrem Ärger Luft. Erst, indem sie ihnen klarmacht, dass sie die »dooferen« Eltern sind, denn »Alle anderen dürfen auch«, dann, indem sie genervt ist und den Vater beschimpft. Der Vater lässt sich provozieren und mit in den Strudel hineinziehen. Er begibt sich auf die gleiche Ebene wie seine Tochter und beschimpft sie seinerseits. Am Ende hat keiner gewonnen. Beide bleiben hilflos zurück, es gibt zwei Verlierer. Die Tochter zieht sich wütend zurück, der Vater ist sauer. Der Kontakt ist abgebrochen.
Der israelische Psychologe Haim Omer benennt in Anlehnung an den amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson zwei mögliche Eskalationsarten, in die Eltern und Kinder geraten können. Die eine ist die symmetrische, das ist die zwischen Sina und ihrem Vater, Feindseligkeit erzeugt Feindseligkeit. Die andere ist die komplementäre: Nachgiebigkeit erzeugt gesteigerte Forderungen. Wenn Eltern und Kinder in eine solche Schleife geraten, kann es eskalieren. 77 | 182 |
Coach
Eltern können etwas tun, um nicht in solche Endlosschleifen zu geraten, und zwar sofort: »Bleiben Sie bei sich«, ist eine Position, die ihnen hilft. »Lassen Sie sich nicht mit hineinziehen in die Eskalation.« »Das ist aber nicht einfach«, sagen viele Eltern. Das stimmt, es ist manchmal das Schwerste für Eltern, aber es hilft. Wenn wir uns als Eltern nicht angegriffen
Weitere Kostenlose Bücher