Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
deine schändlichen Sünden, Venedig!«, schrie Fra’ Amadeo mit nach oben gereckten Armen auf den Stufen zum Oratorio degli Ognissanti auf dem Campo San Silvestro. Die Luft war kalt und feucht, aber der Mönch trug unter seiner schmutzigen, abgetragenen Kutte ein nagelneues doppeltes Wollhemd und lange Unterhosen, die er sich von Zolfos Geld gekauft hatte.
»Bereue, Venedig!«, wiederholte Zolfo beflissen.
Der Platz war voller Menschen, die ihren Geschäften nachgingen. So mancher drehte sich nach dem Predigermönch und dem Jungen mit den zerrauften Haaren und der ungesund gelblichen Haut um. Aber dann wandten die Leute sich wieder ihren Aufgaben zu. Die meisten jedoch sahen nicht einmal hin.
Benedetta wollte zu Zolfo gehen, doch Mercurio hielt sie zurück. »Warte«, sagte er zu ihr. Und so blieben sie etwas abseits hinter einem verkrüppelten Baum stehen, der auf einer kleinen Grünfläche wuchs.
Oben auf den Kirchenstufen holte Bruder Amadeo noch einmal tief Luft. »Bereue deine Sünden, Venedig!«, schrie er wieder, diesmal deutlich lauter.
»Bereue, Venedig!«, wiederholte Zolfo.
Doch niemand blieb stehen, um sich die Predigt anzuhören.
»Die benehmen sich wie zwei Idioten«, stellte Benedetta fest.
»Das sind zwei Idioten«, sagte Mercurio.
»Was sollen wir machen?«, fragte inzwischen Zolfo den Mönch. »Mir ist kalt.«
Fra’ Amadeo durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick. »Wie kannst du über die Kälte klagen? Wärmt dich denn nicht der Glaube an Jesus Christus, unseren Herrn?«
Zolfo nickte gefügig.
Bruder Amadeo reckte wieder die Arme zum Himmel und schrie unverdrossen: »Bereue deine schändlichen Sünden, Venedig!«
»Bereue, Venedig!«, wiederholte Zolfo.
»Hört auf, hier herumzuschreien!«, rief eine Frau von der anderen Seite des Platzes, wo sie aus einem Wirtshaus getreten war, an dessen Tür ein Schild mit einem doppelköpfigen Schwan befestigt war. Sie schwankte betrunken, und die Adern an ihrem Hals quollen deutlich hervor. Mit ihrem getrübten Blick nahm sie den Mönch und den Jungen nur verschwommen wahr.
Bruder Amadeo deutete mit dem Finger auf sie. »Satan! Fahr aus dieser Frau! Ich befehle es dir im Heiligen Namen meines Höchsten Herrn!«
»Fahr heraus, Satan!«, rief Zolfo und zeigte ebenfalls mit dem Finger auf die Frau.
Mercurio und Benedetta drehten sich nach der Frau um.
Sie wankte unentschlossen hin und her und versuchte dann, wieder in die Schenke zu gelangen. Jemand von drinnen fragte sie etwas. »Es ist ein Prediger«, erwiderte sie. Gleich darauf tauchte ein Kopf in der Tür des Gasthauses auf. Und dann noch einer und noch einer. Die Betrunkenen unterhielten sich kurz, aber dann traf auch sie der ausgestreckte Finger von Bruder Amadeo und von Zolfo. »Was willst du, Mönch?«, fragte der Letzte, der herauskam, ein großer, dicker Mann, der sich auf ein Ruder stützte.
»Bereut eure Sünden! Das ist der Befehl unseres Herrn!«, rief Bruder Amadeo. »Verjagt die Judenbrut aus Venedig!«
»Was redest du denn da?«, fuhr ihn die Frau an, die wohl eher mit einer Auflistung der üblichen Sünden gerechnet hatte, angefangen bei Wein und Unzucht.
»Verjagt die Judenbrut«, rief Bruder Amadeo voller Inbrunst, denn das war das Ziel seines persönlichen Kreuzzuges. »Der Jude ist das Krebsgeschwür Satans!«
Der Haufen Betrunkener, ein knappes Dutzend, machte sich daran, auf unsicheren Beinen den Campo San Silvestro zu überqueren. Schwankend und stolpernd stützten sie sich gegenseitig und achteten nicht auf die Leute, die sie wüst beschimpften, weil sie ihnen in die Quere kamen oder auf die Füße traten. Und als sie endlich bei der Kirchentreppe des Oratorio degli Ognissanti anlangten, lag ein dümmliches Lächeln auf ihren Gesichtern. Sie wussten zwar nicht genau, worauf der Predigermönch hinauswollte, waren aber fest entschlossen, sich auf seine Kosten zu amüsieren. Die Säufer bauten sich vor ihm und Zolfo auf und wankten dabei hin und her wie vertäute Boote. Als die einzige Frau unter ihnen rülpste, lachten die Männer derb.
Bruder Amadeo ging nun mit theatralischer Langsamkeit eine Stufe hinab, während er weiter den ausgestreckten Zeigefinger auf die Leute gerichtet hielt. »Verjagt die Judenbrut aus Venedig, oh ihr Sünder, wenn ihr nicht wollt, dass der Zorn Gottes auf euch herabfährt wie einst auf den Pharao und seinen Stamm!«
»Was haben dir die Juden denn getan, Mönch?«, fragte einer und lachte schallend.
»Haben sie etwa deine Mutter
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