Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Schnell lief er weiter und bog in einen Pfad ein, an dem er, wie er sich zu erinnern glaubte, eine kleine Madonnenstatue gesehen hatte. Er ging ungefähr zwanzig Schritte und fand den gesuchten Weg. Links von ihm, wo der Nebel noch dichter war, hörte er leise das Kanalwasser gegen das Ufer schlagen. Das Geräusch des Wassers wurde von dem unregelmäßigen Binsenrand am Ufer gedämpft. Rechts von ihm tauchte etwa alle fünfzig Schritt ein niedriges Bauernhaus mit verblasstem Verputz aus dem Nebel auf. Im Vorbeigehen zählte er noch sieben weitere.
Als das achte Haus in Sicht kam, zögerte er und ging langsamer. Schließlich blieb er stehen. Sein warmer Atem wurde vor seinem Gesicht zu Dampf, der sich mit dem Nebel vermischte. Inzwischen war es dunkel geworden. Er näherte sich dem Haus und spähte durch die Läden eines Fensters hinein. Innen brannte kein Licht. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Er bekam Angst und fühlte sich verloren.
Vorsichtig ging er zur Haustür. Sie war nur angelehnt, und er drückte sie leise auf.
»Ist da jemand …?«, fragte er. Seine Stimme zitterte, während er den Kopf zur Tür hineinsteckte und auf eine Antwort wartete. Nichts. Nur Stille. »Ist jemand zu Hause?«, fragte er erneut.
»Wer ist da?«, hörte er eine Stimme aus dem Nebenzimmer.
Mercurio erkannte sie sofort. Aber etwas stimmte hier nicht.
»Ich bin’s, Mercurio«, sagte er schüchtern. »Der, dem du …«
»Gott sei mit dir, mein Junge«, sagte die Stimme kraftlos.
»Anna … geht es dir gut?«
Er hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde. Dann das Geräusch eines Feuersteins. Mercurio sah ein schwaches, zitterndes Leuchten, dann wurde das Licht stärker und näherte sich flackernd.
Anna del Mercato stand in der Tür der großen Küche. In der Hand hielt sie eine Kerze. Ihre Haare hingen wild durcheinander, ihre Augen waren geschwollen, und ihr Atem malte Wölkchen in die eisige Luft. Erst jetzt bemerkte Mercurio, dass es im Haus sehr kalt war.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Anna del Mercato lächelte zwar, aber es sah aus, als würde sie weinen. »Komm herein«, sagte sie. Sie drehte sich um und schlurfte mit den Füßen schwer über den Boden.
Mercurio schloss die Tür, schob den Riegel vor und folgte Anna in die Küche. Im großen Kamin brannte kein Feuer. Anna del Mercato saß am Tisch. Vor ihr lag die Kette, die Mercurio ausgelöst hatte. Die knisternde Kerze erleuchtete glänzende Tropfen auf dem Holz, die Mercurio für Tränen hielt. Anna drehte sich nicht zu ihm um und sah ihn nicht einmal an, als er sich ihr gegenüber hinsetzte. Ihre Augen waren starr auf die Kette gerichtet, die sie sanft streichelte, als wäre sie ein lebendiges Wesen.
»Ich werde sie nie wieder dem Geldverleiher geben«, flüsterte sie.
Mercurio hätte niemals für möglich gehalten, dass dieses Gesicht voller Leben je in solche Traurigkeit versinken könnte.
»Der Pfarrer sagt, dass man ins Jenseits keine Ketten mitnehmen kann …«, bemerkte sie betrübt. Dann blickte sie auf und starrte Mercurio an. Ihre Augen wirkten so düster und verzweifelt, dass sie Mercurio wie zwei dunkle Löcher vorkamen. »Aber ich gebe sie nicht wieder dem Geldverleiher …« Ihr Blick fiel erneut auf die Kette, und nach einer ganzen Weile, als würde sie sich erst jetzt an seine Anwesenheit erinnern, sah sie noch einmal Mercurio an, wieder mit diesem Lächeln, das wie ein Weinen wirkte. Sie streckte die Hand aus, mit der sie die Kette gestreichelt hatte, und berührte seine. »Gott segne dich, mein Junge«, sagte sie zu ihm. »Ich danke dir.«
»Was geht hier vor, Anna?«, fragte Mercurio.
Anna schwieg. Sie starrte die Kette an, nahm sie und drückte sie an ihre Brust. »Mir ist egal, was der Pfarrer sagt«, sagte sie bestimmt, wenn auch mit schwacher Stimme. »Ich werde die Kette ins Jenseits mitnehmen. Und wenn der Heilige Petrus mir sagt, ich soll sie abnehmen, na gut, dann verschwinde ich auch von dort. Ich werde sie nicht Isaia Saraval geben. Ich werde meinen guten Mann nicht so verraten. Das kann der Herrgott nicht noch einmal wollen. Ich werde diese Kette nicht für ein Stück Brot verschachern. Nein, ich …«
»Anna, beruhige dich«, unterbrach sie Mercurio.
»Nein, lieber würde ich sterben, als …«
»Anna …« Mercurio nahm ihre Hände und beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber. »Anna …«
Anna sah ihn an. »Es tut mir leid, mein Junge, aber ich habe nichts für dich zu essen …«
»Anna, was ist hier los?«
Die Frau
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