Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
dringend Schlaf«, sagte Anna. »Komm, steh auf.«
»Ja …«
Anna half ihm beim Aufstehen. Mehr schlafend als wach ließ Mercurio sich willenlos von ihr zu einem Strohlager führen. Sie half ihm, sich hinzulegen und deckte ihn zu. Dann kehrte sie zum Kamin zurück, legte zwei große Holzscheite auf und setzte sich dann neben Mercurio.
»Dich hat der Himmel gesandt, mein Junge«, sagte Anna.
»Ja …«, brummte Mercurio schläfrig.
Anna lachte leise. »Ja …«, wiederholte sie.
Mercurio nuschelte etwas vor sich hin.
Anna beugte sich über ihn. »Was hast du gesagt?«
»Giu … ditta …«
»Giuditta? Heißt so dein Schatz?«
»Giuditta …«
»Ja, Giuditta.« Anna del Mercato zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. »Schlaf jetzt.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Stirn. »Schlaf, mein kleiner Junge.«
32
W as für ein Ziel könnte ich haben?«, fragte Mercurio am Morgen, kaum, dass er die Augen geöffnet hatte und sah, wie Anna das Feuer schürte. »Vielleicht ein Mädchen zu finden?«
»Nein, das ist eher so etwas wie ein Vorhaben«, sagte Anna del Mercato. Sie wirkte ganz anders als noch am Vorabend, nicht mehr so erschöpft, obwohl sie kaum geschlafen und bei Tagesanbruch in der Kälte das Haus verlassen hatte, um einen Eimer frisch gemolkene Milch und Rosinengebäck zu besorgen. Jetzt goss sie gerade etwas Milch in einen kleinen Topf, der von einem einfallsreichen Mechanismus aus Zugstangen über der Flamme gehalten wurde.
»Lass doch, ich mache das«, sagte Mercurio und sprang auf. »Setz dich hin und ruh dich aus.«
Anna wandte sich brüsk um. Sie wirkte ärgerlich. »Was erlaubst du dir, Bürschchen? Glaubst du etwa, du hast mir zu sagen, was ich tun soll? Ich könnte deine Mutter sein, du arroganter Kerl, und du willst bei mir Vater spielen?«
Mercurio hielt verwirrt inne. Doch dann merkte er, dass Anna gar nicht so wütend war, wie sie tat.
»Schau dir deine Hände an«, fuhr Anna im gleichen Ton fort. »Sie sind ganz schmutzig. Geh sie dir waschen, wenn du essen willst. Und kauf nie wieder Essen und Brennholz bei den Nachbarn. Sollen die mich etwa für eine Bettlerin halten? Wenn du gesehen hättest, wie die mich heute Morgen angeschaut haben!«
»Ich wollte nur helfen …«
»Du wolltest nur helfen, und stattdessen richtest du nichts als Unheil an. Geh und wasch dich. Auch das Gesicht.«
Mercurio verließ das Haus. Das Wasser war zwar eiskalt, aber er war glücklich, Anna zu gehorchen. Als er wieder hereinkam, lag ein törichtes Grinsen auf seinem Gesicht. Er zeigte Anna seine Hände.
»Ja, so ist es gut«, sagte Anna zufrieden, und ihre Stimme klang wieder so sanft wie immer. »Setz dich, die Milch ist heiß.« Sie gab einen Schöpflöffel Milch in eine Schüssel und stellte die Rosinenkekse auf den Tisch.
»Was ist denn ein Ziel?«, fragte Mercurio mit vollem Mund.
Anna del Mercato schüttelte den Kopf und seufzte. »Du fragst mich immer so schwierige Dinge.«
»Entschuldige, aber ich habe nie jemanden gehabt, dem ich Fragen stellen konnte. Ich weiß nicht, wie das geht.«
Anna drehte sich um und biss sich auf die Lippen. Dieser Junge rührte sie. Sie riss die Augen weit auf, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. »Ein Ziel ist etwas, das dein ganzes Leben erfüllt«, erklärte sie ihm dann, während sie sich umdrehte und sich zu ihm an den Tisch setzte. Ihre Hand streichelte über die Kette, die sie um den Hals trug. »Ein Ziel sagt, wer du bist.«
»Wem sagt es das?« Mercurio entdeckte ein neues, beruhigendes Gefühl, das er sich noch nie zugestanden hatte. Anna hatte gesagt, er stelle so schwierige Fragen, aber er wusste, dass er auch sehr dumme stellen konnte.
»Vor allem dir selbst. Und dann den Menschen, die du liebst und deshalb achtest.«
Mercurio steckte sich nacheinander zwei Kekse in den Mund und trank dann von der Milch, um sie aufzuweichen. Danach sagte er mit noch halb vollem Mund: »Ich stelle vielleicht schwierige Fragen, aber du benutzt schwierige Wörter. Ich weiß nicht, was Liebe heißt. Also … ich weiß nicht, ob ich jemanden wirklich lieben kann. Nicht einmal, ob ich jemanden achten kann.«
»Du bist ein Lügner, mein Junge«, erwiderte Anna mit diesem Lachen, das ihn mehr wärmte als das Kaminfeuer. »Glaubst du etwa, dass du Giuditta nicht liebst?«
Mercurio verschluckte sich an den Keksresten. Hustend spuckte er eine weiße Masse auf den Tisch. »Entschuldige«, sagte er verlegen und wischte schnell mit dem Ärmel seiner Jacke den Tisch
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