Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
täte mir leid, wenn ich demnächst mit ansehen müsste, wie Kanalratten deinen Kopf durch die Gegend zerren und dir die Augen aus den Höhlen fressen. Denn genau das hast du vom Fürsten zu erwarten. Selbstverständlich erst, nachdem er dich ausgiebig gefoltert hat.« Scarabello schob sich die langen Haare nach hinten, fasste sie ordentlich zusammen und umwickelte sie mit einem roten Seidenband, das ihm den halben Rücken hinabhing. Dann lächelte er Mercurio an. »Hast du etwa Angst, ein paar Stunden allein zu sein?«
»Ich werde es schon schaffen«, erwiderte Mercurio und schob sich die Daumen unter den Hosenbund.
»Angeber«, sagte Scarabello lachend und ging.
Sobald Scarabello um die Ecke verschwunden war, schob Benedetta eine Hand in die von Mercurio. »Gehen wir zu unserem Gasthaus.«
Mercurio sah auf Benedettas Lippen und folgte ihr brav.
Sie gingen auf ihr Zimmer.
»Mach die Tür zu«, forderte Benedetta ihn auf.
Wieder gehorchte Mercurio.
Benedetta legte sich aufs Bett, knöpfte sich das Kleid auf und entblößte ihre kleinen alabasterweißen Brüste mit den rosa Brustwarzen. Ihr Atem ging schneller. Sie dachte nicht mehr an den ersten Kuss, den sie Mercurio gegeben hatte, sondern an die Angst, die Fürst Contarini ihr eingeflößt hatte, und an die Gefühle, die dabei in ihr hochgestiegen waren. An die Faszination des Abgrunds. Sie sah Mercurio an und dachte, dass er überhaupt nichts von den grobschlächtigen, widerlichen Kerlen an sich hatte, an die ihre Mutter sie verkauft hatte. Sie streckte eine Hand nach ihm aus. Er würde ihr niemals wehtun.
Mercurio legte sich etwas ungeschickt neben sie. Er hatte vor ihr noch nie ein Mädchen geküsst.
Als Benedetta seine Hand nahm, versteifte er sich.
»Ganz ruhig«, sagte Benedetta.
»Was tust du da?«, fragte Mercurio und kam sich wie ein Dummkopf vor.
Benedetta führte seine Hand langsam an ihren Busen und legte sie darauf.
»Was tust du da«, wiederholte Mercurio. Allerdings war es nun keine Frage mehr.
»Hast du Angst?«, fragte Benedetta.
Als er so still neben ihr lag, den Blick starr auf die Decke gerichtet und eine Hand steif auf Benedettas Busen, während sich ein merkwürdig warmes Gefühl zwischen seinen Beinen ausbreitete, dachte Mercurio, dass er alles vom Leben wusste. Oder zumindest mehr als die meisten Menschen. Er konnte in den Kanälen Roms überleben und in einer so geheimnisvollen Stadt wie Venedig, er konnte sich Betrügereien ausdenken, mit dem Messer umgehen, jedermanns Taschen durchwühlen, ohne entdeckt zu werden, und ungelöschten Kalk mit Erde mischen, um damit die Toten zu bedecken. Er hatte sich mit Männern geprügelt, die doppelt so alt waren wie er, hatte einen Kaufmann getötet, Scavamorto die Stirn geboten und das Vertrauen eines Verbrechers wie Scarabello gewonnen. Er wusste alles über das Leben.
Aber über die Liebe wusste er nichts.
»Ich bekomme keine Luft«, sagte er.
»Streichle mich«, sagte Benedetta ungerührt.
»Ich bekomme keine Luft, habe ich gesagt!«, fuhr Mercurio sie an und sprang auf.
»Was ist denn los?«, fragte Benedetta verwirrt.
Mercurio verstand selbst nicht, was ihn auf einmal umtrieb. Aber er konnte seine Wut nicht zügeln. »Ich muss hier raus«, stammelte er mit erstickter Stimme.
»Ich komme mit«, rief Benedetta.
Doch Mercurio reagierte nicht auf ihr Angebot und verließ türenschlagend das Zimmer.
Benedetta knöpfte ihr Kleid wieder zu und kauerte sich unter der Decke zusammen. Als sie die Augen schloss, sah sie sofort Fürst Contarinis Furcht erregendes Gesicht vor sich. Sie ließ eine Hand zwischen ihre Beine gleiten und fühlte sich schmutzig.
Inzwischen war Mercurio völlig außer Atem in Rialto angekommen. Er ging direkt zu dem Einäugigen, der zu Scarabellos Leuten gehörte.
»Ich muss sofort von hier verschwinden«, sagte er. »Such ein Boot für mich.«
31
M ercurio verließ in Mestre das Boot.
»Was soll ich Scarabello sagen?«, fragte ihn der Einäugige, der ihn begleitet hatte. »Wo wirst du dich aufhalten?«
»Ich melde mich«, antwortete Mercurio und entfernte sich.
»Das wird Scarabello gar nicht gefallen.«
»Na und«, erwiderte Mercurio, ohne sich umzudrehen. Er ging zügig voran, denn er hatte es eilig, von hier zu verschwinden. Wenig später hatte ihn der Abendnebel verschluckt.
»Mercurio …!«, rief ihm der Einäugige nach.
Mercurio drehte sich um, doch er konnte weder den Einäugigen noch das Boot entdecken und fühlte sich erleichtert.
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