Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
drohend.
»Was redet Ihr da, Doktor?«, fragte Mercurio erstaunt.
»Halt dich von meiner Tochter fern!«, schrie Isacco mit mehr Nachdruck.
Sofort bildete sich ein Grüppchen Schaulustiger um sie herum.
»Ihr seid betrunken, Doktor«, stellte Mercurio fest. »Warum sollte ich mich von Giuditta fernhalten? Ich …«
Isacco ballte eine Faust zum Schlag, aber er hatte weder Lust noch die Kraft, Mercurio ernsthaft zu verletzen. Es war bloß eine schwache Drohung, ebenso schwach wie er selbst.
»Ein Jude verprügelt einen Christenmenschen«, rief darauf empört einer der Neugierigen.
»Vater, nein!«, hörten sie einen Schrei hinter sich.
Als Mercurio Giuditta sah, spürte er, wie sein Herz heftig zu klopfen begann. Er hakte Isacco unter und stützte ihn mit seinem ganzen Körper. »Haltet ein, Doktor, oder Ihr geratet in große Schwierigkeiten«, flüsterte er ihm ins Ohr. Dann wandte er sich an die Schaulustigen. »Geht fort, wir sind Freunde, das war nur ein Scherz.«
Donnola, der Giuditta auf der Suche nach Isacco begleitete, reagierte prompt. Er stützte Isacco von der anderen Seite und übernahm ihn dann ganz. Dankbar nickte er Mercurio zu.
Doch der beachtete ihn gar nicht, er sah nur Giuditta, deren Augen sich bereits in seinen verloren hatten.
»Warum …?«, fragte Mercurio. »Was ist geschehen?«
Giuditta schüttelte den Kopf. Es war nicht mehr wichtig. Mercurio war hier, er stand jetzt vor ihr.
»Seit Tagen suche ich schon nach dir …«, sagte Mercurio und machte einen Schritt auf sie zu.
Giuditta fühlte sich, als würde sie in einem Strudel versinken. Immer wieder sagte sie sich vor, dass er sie wirklich gesucht hatte, wie er es ihr versprochen hatte. Auch sie ging nun einen Schritt auf Mercurio zu, nichts anderes schien mehr wichtig.
»Warum kommst du nicht in unser Zimmer zurück?«, fragte in dem Moment Benedetta, die sich durch die kleine Menge Schaulustiger gedrängt hatte und nun Mercurio am Arm packte.
Giudittas Augen gefroren zu Eis.
Mercurio sah Benedetta irritiert an. Dann verstand er plötzlich. Als er sich wieder Giuditta zuwandte, sah er, wie sie mit wütender Miene zurückwich. Zitternd richtete sie ihren Zeigefinger auf ihn.
»Macht dir das wenigstens Spaß?«, fragte sie, und aus ihrer Stimme klangen Wut und Schmerz zugleich.
»Giuditta, nein …«
»Wie oft habt ihr hinter meinem Rücken gelacht?«, fragte sie verletzt.
Benedetta sah sie herausfordernd an.
»Los, küss sie! Küss sie noch einmal!«, schrie Giuditta und richtete den Finger wieder anklagend auf Mercurio. »Ich habe es ganz genau gesehen. Sie hat mich dabei angeschaut und gelacht. Und du hast bestimmt auch über mich gelacht, was? Oh, ich bin so dumm!« Damit drehte sie sich um und rannte zu Isacco. »Gehen wir, Vater.«
Isacco verstand nicht recht, was da um ihn herum geschah, aber als er Giuditta voller Verzweiflung weinen sah, fuhr er Mercurio grimmig an: »Wag es ja nicht, wiederzukommen, sonst drehe ich dir eigenhändig den Hals um.«
»Giuditta!«, schrie Mercurio verzweifelt.
Aber sie wandte sich nicht mehr um.
Mercurio blieb wie gelähmt stehen.
Die Schaulustigen lachten und gaben wie im Theater ihre Kommentare zum Geschehen ab. In der Ferne hörte man leise Trommelwirbel.
Mercurio fuhr zu Benedetta herum. »Deswegen hast du mich also geküsst«, zischte er sie hasserfüllt an. »Ich will dich nie wieder sehen. Es kümmert mich nicht mehr, was du tust. Für mich bist du gestorben.« Verächtlich spuckte er vor ihr aus und rannte fort, indem er die Neugierigen grob beiseitestieß und schrie: »Die Vorstellung ist zu Ende, ihr Drecksäcke!«
Benedetta spürte, wie alle Augen auf sie gerichtet waren. Nein, sie durfte jetzt nicht weinen. Sie hielt sich so gerade, wie sie konnte. Angestrengt versuchte sie zu lächeln, als ob nichts vorgefallen wäre, und ging dann ohne ein Ziel zu haben ganz langsam die Straße entlang. Es kostete sie alle Kraft, nicht in sich zusammenzusinken.
Der Trommelwirbel kam näher.
Benedetta tauchte in das Gewirr aus verschlungenen, dunklen Gassen ein, und als sie einen wirklich stockfinsteren Winkel gefunden hatte, blieb sie stehen. Sie nahm die Nadel aus ihren Haaren und stach sie sich zwischen Daumen und Zeigefinger in die Hand, dass die Spitze auf der anderen Seite herauskam.
Erst jetzt schrie sie und weinte, doch sie sagte sich, dass bloß der körperliche und nicht der seelische Schmerz der Grund für ihre Tränen war.
Isacco, Giuditta und Donnola hatten
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