Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Metall.
»Geschlossen!«, rief jemand.
»Geschlossen!«, wiederholte ein anderer.
Und dann war es still.
Die gesamte jüdische Gemeinde hatte sich auf dem Platz des Ghetto Nuovo versammelt. Niemanden hatte es zu Hause gehalten. Es hatte keine Ankündigung, keinen Aufruf gegeben, nein, sie hatten sich einfach so auf dem Platz eingefunden. Und auf allen Gesichtern lag dieselbe Bestürzung.
Zum ersten Mal in ihrem Leben wurden sie eingeschlossen. Dies war der erste Abend.
Ratlose Stille war dem Schließen der Tore gefolgt. Niemand wusste, was ihn erwartete, niemand bewegte sich. Alle Augen waren auf die von außen verriegelten Tore gerichtet.
»Wie Hühner in einem Hühnerhof«, sagte plötzlich eine alte Frau mit heiserer Stimme. »Abscheulich.«
In der Stille konnten alle sie hören.
»Fällt dir kein anderer Vergleich ein?«, fragte ein Mann neben ihr.
Auch seine Frage war für alle zu vernehmen.
»Wie eine Hand voll Wanzen in einer Zunderbüchse«, sagte die Alte darauf. »Wie eine Horde Kakerlaken in einem Nachttopf. Soll ich weitermachen?«
Jemand anderer sagte: »Nein.«
Darauf wurde es wieder still.
Auf einmal stimmte der Idiot der Gemeinde, ein schmächtiger Junge, der immer mit offenem Mund herumlief, sodass ihm der Speichel am Kinn heruntertroff, mit seiner krächzenden Stimme ein altes Schlaflied an, das man abends den Kindern vorsang: »Im Dunkeln leuchtet ein Licht … Es leuchtet in dir … Schließ die Augen, dann wirst du es sehen …«
Ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren rieb sich müde die Augen, dann streckte es seine Hand aus und legte sie in die des Idioten.
»… schließ die Augen, dann wirst du es sehen … das Licht des Engels, der über dich wacht … und das Licht des Tages, der morgen neu erwacht …«
Der Vater des Schwachsinnigen nahm gerührt die andere Hand seines Sohns und drückte sie, während die Mutter die Hand ihres Mannes nahm und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. »Sing, mein Junge«, sagte sie leise.
»Und das Licht des Tages, der morgen neu erwacht … Er wird dein Tag sein, mein lieber Schatz … Denn in deinem Herzen ist die Dunkelheit schon Licht …«
»Denn in meinem Herzen ist die Dunkelheit schon Licht …«, wiederholten die Kinder auf dem Platz im Ghetto Nuovo, ganz so, wie es in dem Lied hieß.
Und ihre Eltern fuhren ihnen zärtlich durch die Haare und nahmen sie bei der Hand, während der Idiot das Lied zu Ende sang: »Denn in unserem Herzen ist die Dunkelheit schon Licht … das Lamm hat zu seiner Herde zurückgefunden … Schlaf, mein Liebes, schlaf … Mein Engel, fürchte dich nicht … denn es gibt keine Furcht im Licht.«
Nachdem wieder Stille eingekehrt war, diese neue, ungewohnte Stille, nahmen sich alle Mitglieder der Gemeinde, einer nach dem anderen, bei der Hand, ohne den Blick von dem verriegelten Tor zu lösen und ungeachtet dessen, wer neben ihnen stand. Sie bildeten eine Kette, die weder Anfang noch Ende hatte.
Darauf erhob sich die Stimme des Rabbis, ernst und tief bewegt: »Morgen bei Tagesanbruch, wenn sie die Tore öffnen, werden wir wieder nur eine Vielzahl Menschen sein. Doch heute Nacht sind wir ein einziger Mann.«
»Amen Sela«, antworteten alle auf dieses Gebet, das noch nie zuvor gesprochen worden war.
Wieder kehrte Stille ein.
Da hörte man jemanden von der anderen Seite der Mauer schreien: »Ich bringe dich von hier fort, Giuditta! Ich schwöre, ich bringe dich fort von hier!«
Alle Frauen, jungen Mädchen und sogar die Kinder, die Giuditta hießen, fragten sich, wer da wohl rief, und die Eitelsten unter ihnen hofften, sie wären gemeint. Doch nur Giuditta di Negroponte erkannte Mercurios Stimme. Ein starkes Gefühl übermannte sie, als hätte diese Stimme etwas in ihr aufgewühlt, obwohl sie sich geschworen hatte, dass sie nie wieder an ihn denken wollte.
Ihr Vater Isacco drehte sich zu ihr um.
Giuditta errötete. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte sie hastig. »Mir ist kalt.«
Im Nu hatten die beiden Wachen auf dem Boot, das die Wasserwege um das abgesperrte Judenviertel kontrollierte, die Planke entdeckt, die in einem schmalen Seitenkanal wie eine kleine Brücke zu der kürzlich aus Ziegelsteinen erbauten Umfassung führte, und auch die dunkle Gestalt, die auf die Mauer geklettert war.
»Komm da runter!«, schrie der eine Wachmann, während der andere seine Armbrust spannte.
Mercurio hob die Hände zum Zeichen, dass er sich ergab, und ließ sich dann von der Mauer herab.
Eine der Wachen packte
Weitere Kostenlose Bücher