Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Wort gesagt. Er war völlig durcheinander. Benedetta hatte ihn betrogen, sagte er sich immer wieder vor. Und Giuditta dachte, dass er derjenige war, der sie betrogen hatte.
Vom Marktplatz hörte auch er die Trommeln. Schnell bog er ab, um dorthin zu gelangen. Er sah eine kleine Menschenmenge, die einem Herold der Serenissima lauschte. Auch Isaia Saraval war aus seiner Pfandleihe hervorgekommen und hörte sich an, was der Bote verkündete.
»Heute, am neunundzwanzigsten Tag des Monats März im Jahre des Herrn 1516, wird verkündet und angeordnet, dass alle Juden gemeinsam in dem Komplex von Häusern wohnen müssen, die sich im Ghetto bei San Girolamo befinden. Und damit sie nicht die ganze Nacht umhergehen, wird verkündet und angeordnet, dass an der Seite des Ghetto Vecchio, wo sich die kleine Brücke befindet, und gleichermaßen an der anderen Seite der Brücke zwei Tore zu errichten sind, je eines für die beiden genannten Orte. Jedes Tor muss morgens beim Klang der Marangona-Glocke geöffnet und abends um punkt Mitternacht durch vier christliche Wachen zugesperrt werden …«
Mercurio lauschte dem Herold, und in seinem Kopf ging es vollkommen durcheinander. Jetzt weiß ich, wo ich dich finde, Giuditta, dachte er als Erstes. Doch dann wurde ihm klar, dass er besser als jeder andere wusste, was damit Giudittas Los war. Denn er war selbst lange Zeit zu einem ähnlichen Schicksal verurteilt gewesen. Er wusste genau, was es hieß, eingesperrt zu sein. Im Waisenhaus. In einer Hütte bei den Armengräbern, wo man ihn nachts an die Liege angekettet hatte. In einem Abwasserkanal, auch wenn er sich eingeredet hatte, dies wäre sein Zuhause und seine Freiheit. Er wusste nur zu gut, wozu Giuditta verurteilt worden war. Und er empfand großes Mitleid. Unendlichen Schmerz.
Er rannte zur Mole zurück, warf dem Gondoliere eine Münze zu und ließ sich auf die Rückseite von San Marco bringen, wo die unzähligen Galeeren lagen, die die Meere der Welt durchpflügten. Er sagte dem Gondoliere, er möge um jedes dieser Schiffe rudern. Er wusste noch nicht so genau, was er eigentlich vorhatte, aber dann sog er die Gerüche in sich auf, betrachtete die mächtigen Schiffsrümpfe, reckte die Nase nach oben, damit er die Spitzen der langen, starken Masten sehen konnte, stellte sich vor, wie die Riemen in die Wellen eintauchten und der Wind die Segel aufblähte. Und erst nachdem er sich an diesen Fantasiebildern berauscht hatte, befahl er dem Gondoliere, ihn nach Mestre zurückzubringen. Während er bei Sonnenuntergang über das Wasser zurückfuhr, begriff er, warum er die Schiffe hatte sehen wollen.
»Ich werde dich von hier fortbringen, Giuditta«, sagte er leise vor sich hin.
»Was?«, fragte der Gondoliere.
Mercurio antwortete ihm nicht. Er lächelte den Mond an, der langsam seine Bahn über den Himmel zog.
Er rannte zu Anna del Mercato nach Hause, weckte sie auf und erzählte ihr ganz aufgeregt: »Ich will frei sein. Das ist es, was ich will.«
Anna del Mercato rieb sich die Augen. Sie setzte sich auf und zündete eine Kerze an. »Sag das noch mal, aber sprich etwas langsamer, mein alter Kopf kann einem jungen Kerl wie dir nicht folgen.«
»Ich will ein Schiff haben«, erklärte Mercurio. »Ein Schiff ganz für mich allein. Und ich will über die Meere segeln, bis in die Neue Welt. Und ich will …« Er schloss die Augen. »Ich will einen Ort finden, an dem alle Menschen frei sind«, sagte er in einem Atemzug. »Einen Ort, an dem auch Giuditta frei sein kann.«
Anna del Mercato betrachtete ihn gerührt. Ihr kam es vor, als könnte sie die Begeisterung des Jungen spüren wie einen Windhauch, wie den Levante, wenn er übers Meer strich.
»Ist das ein Ziel?«, fragte Mercurio mit weit aufgerissenen Augen wie ein kleines Kind.
»Komm her, umarme mich«, sagte Anna. Und als sie ihn in ihren Armen spürte, schämte sie sich, weil sie an nichts anderes denken konnte als daran, dass sie Mercurio verlieren würde, wenn er diesen Traum tatsächlich wahr machte.
»Ist das ein Ziel?«, fragte Mercurio sie erneut.
»Ja, das ist ein großartiges Ziel, mein Junge …«
Mercurio drückte sie fester. »Und wirst du mit mir und Giuditta kommen?«, fragte er.
Da brach Anna in Tränen aus.
ZWEITER TEIL
Venedig – Mestre – Rimini
36
S chließen!«, befahl jemand.
Die Angeln quietschten, und die zwei großen Tore schlossen sich mit einem dumpfen Schlag. Man hörte, wie die Riegel kreischend vorgeschoben wurden, Metall auf
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