Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
sagte der Diener und durchquerte die Galerie, dann öffnete er eine Tür und wies ihr ein Zimmer an.
Kaum war Benedetta durch die Tür geschritten, schloss der Diener sie hinter ihr und ging wieder vor ihr her, führte sie durch ein Labyrinth aus großen und kleinen Zimmern, die nach und nach immer dunkler wurden. Schließlich blieb er vor einer breiten zweiflügeligen, mit Damast bezogenen Tür stehen, zu deren beiden Seiten zwei Wandleuchter eingelassen waren, jeder mit einem Dutzend Kerzen bestückt. Die Kerzen tropften auf den Boden, als würden sie Tränen vergießen. Der Diener trat beiseite, öffnete einen Flügel und bedeutete Benedetta einzutreten.
»Seine Exzellenz wird zu Euch kommen, sobald es ihm beliebt.«
Benedetta betrat das Zimmer und fuhr zusammen, als die Tür hinter ihr zufiel. Sie empfand eine gewisse Verzweiflung, als sie hörte, dass der Diener die Tür zweimal verriegelte. Instinktiv klammerte sie sich ängstlich an die Klinke. Doch dann gemahnte sie sich selbst zur Ruhe.
Du weißt genau, warum du hier bist, sagte sie sich und holte tief Luft.
Als sie wie erstarrt auf dem Lager im Gasthaus gelegen hatte und der Schmerz in der Stille zunehmend unerträglich geworden war, hatte sie erkannt, dass ihr Hass auf Giuditta sie schlimmer als alles Ungeziefer aufzehren, ja bis auf die Knochen zerfressen würde, wenn sie dort liegen bliebe. Deshalb hatte sie sich entschlossen, die Einladung des Fürsten anzunehmen, die er am selben Tag ausgesprochen hatte, als Mercurio sie weggestoßen hatte. Das hatte ihr ihre Mutter eingegeben, die sie besser kannte als jeder andere. Sie wusste, wer Benedetta wirklich war. Du weißt genau, warum du hier bist, wiederholte sie sich stumm.
Benedettas Augen hatten sich allmählich an das Halbdunkel gewöhnt, und sie erkannte, dass sie sich in einer Art Vorzimmer befand, das schwarz gestrichen war und dessen dunkle Enge einem den Atem nahm. Durch einen dicken Vorhang vor ihr fiel Licht herein. Benedetta trat vor, schob den Vorhang beiseite und stand plötzlich in einem riesigen, in Himmelblau und Gold gehaltenen lichten Raum von schlichter Eleganz. In der Mitte des Zimmers stand ein einfacher Tisch mit schlanken, gewundenen Beinen, die vergoldet und dezent verziert waren. Seine Platte war mit ledergebundenen Büchern und Pergamenten bedeckt. Der Tisch stand auf einem großen himmelblau-goldenen Teppich, dieselben Farben, die auch den übrigen Raum beherrschten. In einer halbkreisförmigen Nische hatte man einen vergoldeten Alkoven eingerichtet, dessen fein verzierte Säulen an jeder Ecke einen beinahe transparenten, golddurchwirkten Stoffhimmel stützten. Die Überdecke des Bettes aus himmelblauer Seide war ebenfalls von zarten goldenen und weißen Streifen durchzogen. Ihre Mitte schmückte ein handgesticktes Familienwappen. In den beiden vollkommen gleichen Kaminen, die einander gegenüberstanden, knisterten Eichenscheite, und im Zimmer lag ein hauchfeiner Duft nach Jasmin. Die Wände waren nackt. Benedetta sah hinauf zur Zimmerdecke. Das Gemälde zeigte einen Himmel mit duftigen weißen Wolken und ein rothaariges Mädchen in einem weißen Kleid mit einer Haut, die gleichermaßen hell war wie sein Gewand. Das Mädchen saß lächelnd auf einer Schaukel.
Während sie in die Betrachtung des Bildes versunken war, hörte Benedetta eine schrille Stimme: »Erkennst du dich wieder?«
Sie wandte sich um, doch dort war niemand.
Sie hörte jemanden gedämpft lachen, dann fuhr die Stimme fort: »Du erkennst dich noch nicht wieder?«
Benedetta versuchte herauszufinden, woher die Stimme kam.
»Rechts vom Bett ist eine kleine Tür. Öffne sie.«
Benedetta gehorchte. Dahinter lag auf einem Stuhl eine makellos weiße Tunika.
»Zieh das an!«, sagte die grelle Stimme.
Benedetta sah sich um.
»Entkleide dich und zieh das an«, wiederholte die Stimme. »Ich will dir dabei zusehen.«
Benedetta spürte, wie sich ihr Hals immer mehr zuschnürte. Du weißt genau, warum du hier bist, dachte sie wieder. Sie führte die Hand an die Tasche ihres billigen Kleids und berührte das, was sie für diese Gelegenheit vorbereitet hatte. Dann holte sie tief Luft. »Ich muss pinkeln«, sagte sie und blieb regungslos stehen.
Schweigen breitete sich im Zimmer aus.
Dann fuhr die Stimme verärgert fort: »Hättest du nicht vorher daran denken können?«
»Euer Gnaden, ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte Benedetta demütig.
Wieder herrschte lange Schweigen.
»Unter dem Bett steht ein
Weitere Kostenlose Bücher