Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
auf. »Verschwinde, Junge. Mach dich auf den Weg. Ich habe zu tun.« Er ging zur Tür, öffnete sie und winkte Mercurio hinaus. »Lass ihn laufen, Serravalle«, sagte er. »Und du geh wieder auf das Boot.«
»Ja, Herr«, erwiderte Serravalle. Er packte Mercurio am Arm und schleppte ihn bis zur Fondamenta degli Ormesini. Dann bückte er sich und hob drohend einen Stein auf. »Verschwinde, du räudiger Köter!«
Als Mercurio außer Reichweite war, setzte Hauptmann Lanzafame noch einmal die Weinflasche an und trank, dann nahm er einen kleinen Becher aus Bein und die Würfel und verließ den Raum. Er lief zum Tor des Ghettos, bedeutete den Wachen, ihm zu öffnen, und trat ein.
Isacco erwartete ihn bereits.
»Guten Abend, Doktor«, sagte Lanzafame.
»Guten Abend, Hauptmann«, erwiderte Isacco lächelnd.
»Wie wär’s mit einer Partie Würfeln?«
»Was wird man von Euch denken, wenn man Euch zusammen mit einem Juden sieht?«
»Was wird man von dir denken, wenn man dich zusammen mit einem Goi sieht?«
Die beiden Freunde setzten sich auf den Boden, den Rücken an die Mauer gelehnt. Dann warf der Hauptmann die Würfel.
»Weißt du, wem ich heute Abend begegnet bin?«, fragte Lanzafame.
»Soll ich so tun, als wüsste ich es nicht?«, antwortete Isacco und schüttelte den Kopf.
»Wie? Du weißt es also?«
»Es war schließlich nicht zu überhören, was er aus vollem Hals gebrüllt hat.«
Lanzafame lachte. »Ein netter Kerl, nicht wahr?«
»Wenn ich nicht Giudittas Vater wäre, fände ich ihn wesentlich sympathischer.«
»Das kann ich verstehen.« Lanzafame nickte. »Du bist dran. Würfel.«
Isacco schüttelte die Würfel in dem Becher aus Bein und warf sie.
»Diese Posse ist bald vorbei, Doktor«, erklärte Lanzafame.
»Eine Posse ist es nur für den, der es von draußen sieht, Hauptmann. Aber für uns hier drinnen ist es keineswegs eine Posse, glaubt mir.«
Lanzafame schwieg eine Weile. »Es wird bald vorbei sein«, wiederholte er dann.
»Es hätte niemals beginnen dürfen«, bemerkte Isacco düster.
Lanzafame sammelte die Würfel auf und warf sie zerstreut. Dann gab er den Becher an Isacco weiter, der ebenfalls nicht richtig bei der Sache war. Als der Hauptmann schließlich die Punkte zusammenzählte, hielt er eine billige, dünne Halskette in der Hand und fuhr mit dem Daumen darüber.
Isacco erkannte sie wieder. »Sie ist von Marianna, nicht wahr?«, fragte er.
Lanzafame legte die Würfel in den Becher zurück, doch er warf sie nicht, sondern blieb wie erstarrt sitzen und ließ die Kette wie einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten.
»Ich werde nie mehr als Arzt arbeiten.«
»Das ist ein Fehler.«
»Hauptmann, ich bin kein Arzt. Ich bin ein Betrüger …«
»Alle Ärzte sind Betrüger«, lachte Lanzafame bitter.
»Ich meine es ernst. Ich bin ein Gauner.«
»Hör mal, Isacco.« Lanzafame setzte den Würfelbecher ab und packte Isacco am Kragen seiner Jacke. »Ich bin kein Beichtvater, und du bist ohnehin kein Christ. Deshalb hat es keinen Sinn, wenn du bei mir beichtest, und noch weniger, wenn ich mir das anhöre.« Er ließ ihn los. »Ich weiß, wer du bist. Alles andere interessiert mich nicht«, sagte er entschlossen und sah wieder hinunter auf die Kette.
»Fehlt sie Euch?«, fragte Isacco leise.
»Wie die Luft zum Atmen«, antwortete Lanzafame ohne aufzusehen. »Ich habe es ihr nie gesagt. Ebenso wenig wie ich es mir selbst eingestanden habe.«
»Manche Menschen gehen einem unter die Haut.«
Lanzafame sah ihn an. Seine Augen waren vom Wein und von Tränen getrübt. »Deine Frau, ist die dir unter die Haut gegangen?«
»Ja«, antwortete Isacco seufzend. »Und das tut sie immer noch.«
Schließlich gab sich Lanzafame einen Ruck. »Spiel, Doktor. Ich kann es nicht leiden, wenn wir der Vergangenheit hinterherjammern.«
Isacco würfelte, doch keiner von ihnen hob die Würfel auf.
»Vielleicht ist deine Tochter Giuditta diesem Jungen genauso unter die Haut gegangen«, sagte Lanzafame.
Isacco zuckte die Schultern. »Sein Pech.«
»Oder sein Glück«, entgegnete Lanzafame. »Wir haben unsere Frauen verloren. Er hat die seine gerade gefunden.«
»Wollt Ihr nun spielen oder reden, Hauptmann?«, fuhr Isacco auf.
Lanzafame warf die Würfel und nickte nachdenklich. »Es stimmt schon, dieser Junge bringt nichts als Schwierigkeiten.«
»Das könnt Ihr laut sagen«, brummte Isacco.
Lanzafame schlug ihm auf die Schulter. »Aber du magst ihn doch. Gib es ruhig zu.«
Isacco stand auf. »Ihr
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