Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
dem Kopf zurecht und mischte sich unter den Strom der Arbeiter. Es war schon beeindruckend, gemeinsam mit so vielen Menschen zu marschieren, die genauso gekleidet waren wie er. Wohin er auch blickte, überall dieselben Gewänder. Die Gassen waren brechend voll. Wer in der Mitte ging, wurde von allen Seiten hin und her geschoben, die am Rand wurden gegen die Hauswände gedrückt. Man konnte unmöglich stehen bleiben oder die Richtung ändern. Mercurio kam sich vor wie ein Wassertropfen in einem reißenden Bach, so viele waren sie. Niemand beachtete ihn, stellte er fest. Keiner sah den anderen an, wohl weil jeder davon ausging, ohnehin niemand Bekanntes zu treffen. Es war schlicht unmöglich, dass hier jeder jeden kannte.
Kurz vor dem Tor zum Arsenal kam der Menschenstrom beinahe zum Stehen. Es ging nur noch im Schritttempo vorwärts. Mercurio machte sich nun doch Sorgen. Gab es etwa Kontrollen? Musste man Papiere haben? Was geschah da vorne? Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um mehr zu sehen. Aber er konnte nichts erkennen.
Der Arsenalotto neben ihm gähnte. »Die erste Schicht ist doch immer lästig«, sagte er.
Mercurio nickte. »Stimmt …«
»Erweitert doch wenigstens das Tor, sage ich immer«, fuhr sein Nebenmann fort. »Findest du nicht auch? Jeden Morgen müssen wir hier zusammengepfercht wie Vieh warten, weil das Tor zu eng ist, um uns alle schnell passieren zu lassen.« Er schnaubte wütend. »Weißt du, was ich meine? Wenn jemand von denen, die die Gesetze machen und die Entscheidungen fällen, ein ganz normales Leben führen würde wie wir, würde alles besser laufen. Meinst du nicht auch? Wenn der jeden Morgen zusammen hier mit uns in der Schlange stehen müsste, mit all den Hunderten von Arsenalotti, dann würde der schleunigst das Tor erweitern oder irgendwo noch ein anderes aufmachen.«
»Stimmt«, sagte Mercurio und jubelte innerlich. Die Verzögerung rührte also von dem großen Andrang her, nicht von irgendwelchen Kontrollen.
Als er jedoch wieder an den großen Torbogen der Porta di Terra dachte, hörte er erneut seinen Herzschlag wie einen Trommelwirbel in seinen Ohren dröhnen. Trotz der Kälte rann ihm ein Schweißtropfen an der Schläfe hinunter. Er senkte den Kopf, um seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Mühsam bändigte er seine Beine, die am liebsten davonrennen wollten, und auch seinem Verstand, der ihm riet, auf der Stelle kehrtzumachen, musste er Einhalt gebieten.
Denk an Giuditta, sagte er sich. Dir kann nichts passieren.
Als er schließlich durch den gewaltigen Torbogen lief, beachteten die Wachen ihn gar nicht. Für sie war er nur einer unter unglaublich vielen. Irgendein Arsenalotto unter Hunderten. Er lachte insgeheim, und während er das Tor hinter sich ließ, dachte er, dass die Venezianer nichts als aufgeblasene, eingebildete Dummköpfe waren. Sie rühmten sich ihrer außergewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen, aber in Wahrheit kam jeder ins Arsenal hinein. Und das auch noch so einfach.
»He, du da! Wo willst du hin?«, hörte er da eine Stimme hinter sich.
Mercurio erstarrte. Jetzt hast du dich ganz allein ins Unglück geritten, du Schwachkopf, sagte er sich. Er drehte sich nicht um, sondern lief einfach stur und gleichmäßig geradeaus.
»He, du Trottel, antworte gefälligst!«, rief die Stimme wieder, und dann packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter.
48
I ch verbiete dir, diesen Jungen noch einmal zu treffen!«, brüllte Isacco beim Frühstück, das seine Tochter ihm bereitet hatte. »Du hast gestern Abend alle Augen auf dich gelenkt. Die ganze Gemeinde spricht darüber!«
»Mir ist egal, was die Leute sagen!«, erwiderte Giuditta heftig und war schon drauf und dran, dem Vater zu berichten, was man sich über ihn erzählte, doch dann hielt sie sich zurück.
»Das ist dein Volk«, fuhr Isacco fort. »Außerdem will ich nicht, dass du diesen Jungen triffst …«
»Er heißt Mercurio«, sagte Giuditta selbstbewusst.
»Nein, der heißt Dieb mit Vornamen und Betrüger mit Nachnamen«, brüllte Isacco. »Und Heiliger Himmel, ich habe dich nicht von unserer Insel fortgebracht, damit du genauso endest wie … wie …« Er verstummte, rot im Gesicht.
»Wie wer?«, fragte Giuditta.
Isacco fuhr auf, als würde er gleich explodieren. »Wie deine Mutter, verdammt noch mal!« Darauf schwieg er einen Moment, versenkte den Kopf in seiner Suppenschale und schnaubte wie ein wütender Stier. »Deine Mutter hatte keine Wahl. Sie hatte sich von der Gemeinde entfernt,
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