Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
wie ich sie aufhalten soll.« Ehe er die Haustür öffnete, wandte er sich noch einmal um und sah, dass Giuditta gekränkt war. Er ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Wir reden ein anderes Mal darüber …« Er hielt kurz inne und nahm ihre Hände. »Was hast du denn mit deinen Fingern angestellt?«
Giuditta befreite sie aus dem Griff. Ihre Finger waren rot und von den Nadeln zerstochen. »Ich nähe …«
»Ach, das ist es …« Isaccos Blick fiel auf den Stapel gelber Hüte, die zusammengelegt auf dem Schemel neben dem Tisch lagen, und deutete zerstreut darauf: »Die da? Aber wie viele hast du denn davon?«
»Darüber wollte ich mit dir reden …«
»Nicht jetzt, mein Liebling.« Er küsste sie noch einmal auf die Stirn und verließ das Haus.
Giuditta seufzte, und ihre Augen starrten ins Leere. Instinktiv wanderte ihre Hand zu dem Schmetterling, Mercurios Geschenk, das sie immer an ihrem Arbeitsplatz liegen hatte. Sie lächelte versonnen. Alles würde sich zum Guten wenden. Sie wandte sich ihren Hüten zu. Da gab es schon Erfolge zu vermelden. Anscheinend wollten alle Frauen aus der Gemeinde ihre Hüte. Octavia hatte erzählt, sie hätte sogar drei davon unter der Hand an aristocristiane verkauft, wie sie die reichen, christlichen Damen aus der Aristokratie nannte. Ein aufregendes – und einträgliches – Abenteuer.
Sie streckte sich und nahm einen halb fertigen Hut. Nadel und Faden steckten in der Krempe. Sie zog die Nadel heraus, und als sie zu nähen begann, verzog sie schmerzlich das Gesicht. Ihre zerstochenen Finger brannten heftig. Wenn Mercurio ihre Hände jetzt sehen würde, kämen sie ihm bestimmt hässlich vor. Nein, dachte sie. Nein, er würde sie mit Küssen bedecken! Plötzlich musste sie richtig laut loslachen bei dem Gedanken, und in der Stille des Hauses klang ihr Lachen so heiter wie das sommerliche Rauschen eines Baches zwischen den Steinen.
»Wenn man dich so sieht, könnte man dich für reichlich verrückt halten«, sagte eine Stimme in der Tür. »Aber du bist wohl einfach nur glücklich.«
Giuditta drehte sich um und rief: »Octavia!«
»Schließt du eigentlich nie die Tür?«, fragte Octavia, die Frau des Pfandleihers, der sich mit Anselmo del Banco zusammengetan hatte, bevor sie eintrat.
Giuditta lächelte sie an und nahm die Nadel wieder auf.
»Lass das«, hielt Octavia sie zurück. »Sieh dir mal deine Finger an.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Geschäft geht gut, aber so kannst du nicht weitermachen. Außerdem werden es immer mehr Bestellungen …«
Giuditta legte die Nadel hin. Ihr Gesicht wirkte müde und angespannt. Sie streichelte die zarten Flügel des Schmetterlings aus Silberfiligran.
»Wenn du krank wirst, müssten wir unser Geschäft wohl vergessen«, fuhr Octavia fort. Sie lächelte, doch irgendetwas in ihrem Blick verriet, dass sie es ernst meinte. »Und dein Vater könnte dich bestimmt nicht heilen. Er ist ja nie zu Hause.«
Giuditta sah ihre Freundin an. »Mein Vater kümmert sich um sehr ernste Dinge. Er hat keine Zeit für diesen Weiberkram.«
Octavia trat ans Fenster. Sie sah hinunter auf den Platz und holte Luft, als müsste sie erst die richtigen Worte finden. »Die Gemeinde ist nicht so überzeugt davon, dass es … ernste Dinge sind.«
Giuditta versteifte sich. »Mein Vater tut seine Pflicht als Arzt«, verteidigte sie ihn.
»Die Gemeinde glaubt, die Patientinnen, um die er sich kümmert, sind … nicht gerade schickliche Personen.«
»Die Gemeinde, die Gemeinde …«, schnaubte Giuditta wütend. »Weißt du, was ich manchmal denke? Die Christen schließen uns nachts ein, ja, aber die Gemeinde schließt uns …«
»Sprich nicht weiter, Giuditta«, unterbrach sie da Octavia. »So kommt man auf gefährliche Gedanken und muss dann den Worten hinterherlaufen, die einem entschlüpft sind. Lass uns das Thema am besten an dieser Stelle beenden.«
Verärgert nahm Giuditta erneut die Nadel zur Hand und fing an zu nähen.
Octavia ging zu ihr, legte ihre Hand auf Giudittas und hielt sie liebevoll auf. »Mit diesen Händen kannst du wirklich nicht nähen. Du wirst den Stoff rot färben.« Lächelnd sagte sie: »Er muss doch gelb sein, das weißt du doch.«
Giuditta sah sie immer noch verärgert an.
»Du siehst ganz schön böse aus, wenn du die Augenbrauen so zusammenziehst«, sagte Octavia. »Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Giuditta entzog ihr die Hände. Sie sah Octavia an, und langsam entspannte sich ihre Stirn. Es war leicht, sie sich
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