Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
dass Giuditta und er sich durch ein dickes Holztor hindurch berührt hatten, würde der ihn für verrückt erklären. Und doch war es für Mercurio, als hätten sie sich wirklich berührt. Handfläche gegen Handfläche. Haut auf Haut.
Und er war sich sicher, dass Giuditta – Mercurio zögerte, ehe er diesen Gedanken zu Ende dachte, da er so aufregend und bedeutsam war – für ihn dasselbe empfand. Sie waren miteinander verbunden. Sie waren eins geworden.
Deshalb stand für ihn fest, dass ihm heute im Arsenal nichts passieren konnte. Er wusste genau, dass er nicht sterben würde.
Schlicht und ergreifend, weil das nicht seine Bestimmung war.
Denn seine Bestimmung lag in der Erfüllung seiner Liebe zu Giuditta.
Mercurio ging zur Waschschüssel und wusch sich das Gesicht. Er nahm die Kleidungsstücke des Arsenalotto und begann, sie betont langsam anzuziehen, als ob diese fast rituellen Bewegungen ihm dabei helfen könnten, in seine Rolle hineinzufinden. Als er in die Jacke geschlüpft war, presste er gleich den linken Arm an die Brust, um den Riss im Gewebe zu verbergen, und sah an sich hinunter, um zu überprüfen, ob ihm das gelang. Es war nichts zu erkennen. Mercurio ging ein paar Schritte, um auszuprobieren, wie er mit angewinkeltem Arm lief. Es wirkte ziemlich unnatürlich. Daher machte er noch ein paar Schritte, bei denen er den Arm ein wenig bewegte, und überprüfte wieder, ob dabei der Riss stark zu sehen sei. Doch auch so konnte er keine schadhafte Stelle ausmachen. Das war seltsam, und so hob er den Arm ganz nach oben.
Erst jetzt erkannte er, dass der Riss gar nicht mehr da war.
Anna musste ihn geflickt haben.
Mercurio schmunzelte.
Dann begann er, sich zu schminken. Er nahm ein dichtes Haarbüschel, das er am Vortag in den Gassen im Vorübergehen einem Pferd aus dem Schweif geschnitten hatte. Ein paar Haare zupfte er heraus und nahm sie beiseite, die anderen legte er aufs Bett. Dann tauchte er die Fingerspitzen in eine Schüssel mit Harz, das er ebenfalls bei seinen gestrigen Vorbereitungen durch einen tiefen Schnitt in die Rinde einer Tanne hinter Annas Haus gewonnen hatte. Mit den Fingern schmierte er sich ein wenig davon in die Haare, und zwar zuerst über den Ohren und dann am Hinterkopf, etwas oberhalb der Linie, wo die Mütze des Arsenalotto endete. Nun klebte er die Pferdehaare in kleinen Strähnen an den eigenen Haaren fest. So hatte er innerhalb kurzer Zeit auf einmal üppige, lange Haare, die er sich mit einem auffälligen roten Band zusammenfasste. Wer immer ihn jetzt betrachtete, würde als Erstes darauf blicken und seinem Gesicht kaum noch Beachtung schenken. Dann verteilte er ein wenig Harz unter seiner Nase und klebte auch dorthin Pferdehaare, die er passend zurechtgeschnitten hatte. Jetzt hatte er also auch noch einen Schnurrbart. Und als letzten Kniff klebte er Haare in seine Augenbrauen, sodass diese ganz buschig und fast zusammengewachsen erschienen. Er wusste, dass diese wenigen Elemente genügten, um ihn in einen vollkommen anderen Menschen zu verwandeln. Jetzt würde der Arsenalotto, dem er die Kleidung geraubt hatte, ihn schwerlich wiedererkennen.
Zufrieden stieg er die Treppe hinab, ganz leise, um Anna nicht zu wecken, und lief weiter auf Zehenspitzen zur Tür.
»Komm und iss etwas«, hörte er Annas Stimme aus der Küche.
Mercurio, der die Hand schon auf der Klinke hatte, erstarrte.
»Es ist kalt, und es wird ein langer Tag für dich«, fuhr Anna fort.
Mercurio zog die Hand von der Klinke zurück und ging in die Küche. Er schämte sich, dass sie ihn nun in seiner Verkleidung als Arsenalotto sehen würde.
Anna lachte herzhaft auf. »Du bist wirklich sehr geschickt«, sagte sie dann.
Das Frühstück stand schon auf dem Tisch. Mercurio setzte sich und begann zu essen.
»Wieso bist du schon auf?«, fragte er sie.
Anna sah ihn an und lächelte. »Nicht nur deinetwegen, bild dir bloß nichts ein. Ich habe eine Arbeit gefunden.«
»Was für eine Arbeit?«
Anna schlüpfte in einen langen Mantel aus Barchent, der mit Eichhörnchenfellen gefüttert war. »Es gibt einen Empfang im Haus eines verarmten Adligen. Der stellt für einige Monate Diener an. Für alle möglichen Arbeiten, aber vor allem, um den Palazzo zu säubern. Im Moment ist das ein richtiggehender Schweinestall.«
»Weshalb musst du überhaupt arbeiten?«, fragte Mercurio. »Wir haben doch genügend Geld.«
»Dieses Geld gehört dir. Behalt es und leg es beiseite. Du hast einen ehrgeizigen Traum, und ich
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