Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
ragte.
Shimon Baruch wich zurück, zog die Waffe aus dem Körper und starrte Ercole erschrocken an. »Das wollte ich nicht … Ich wollte doch nicht …«, stammelte er.
Der Riese sank langsam auf dem Boden zusammen. »Ercole … hat … tut … weh …«
»Neeiin!«, schrie Zolfo verzweifelt auf.
»Das wollte ich nicht …«, wiederholte Shimon Baruch. Und dann stierte er Mercurio in einem neuen Anfall von Hass wie irre an. »Das ist deine Schuld! Alles nur deine Schuld!«, schrie er und stürzte sich auf ihn.
Diesmal schloss Mercurio nicht die Augen. Es gelang ihm, die Waffenhand des Kaufmanns zu fassen. Beflügelt durch die von der Angst vervielfachte Kraft gelang es ihm, die Wucht des ersten Angriffs abzufangen. Er sank in die Knie, ohne jedoch den Druck auf die Faust mit dem Dolch zu vermindern. Die blutige Klinge schrammte über seinem Kopf an der Mauer entlang.
»Das ist deine Schuld! Alles nur deine Schuld!«, schrie der Kaufmann wieder.
Mercurio hielt weiter dessen Handgelenk gepackt, wirbelte einmal um sich selbst und holte so den Kaufmann von den Füßen. Shimon Baruch fiel hin und zog den Jungen mit sich in den Unrat. Mercurio hatte nur einen einzigen Gedanken: Er durfte die Hand mit dem Dolch auf keinen Fall loslassen. Und dann gab die Schulter des Kaufmanns plötzlich nach, er prallte mit dem Rücken gegen die Mauer, sein Ellenbogen und sein Handgelenk bogen sich in einem unnatürlichen Winkel und Mercurios Körpergewicht drückte wie von selbst nach unten.
Die Klinge drang in den Hals des Kaufmanns.
Mercurio hörte, wie Knorpel brachen, und fühlte sich erinnert an das Knacken zertretener Kakerlakenpanzer. Er schmeckte das Blut, das ihm in den Mund spritzte. Zu Tode erschrocken sprang er auf, und sein Blick spiegelte sich in den verlöschenden Augen Shimon Baruchs. So blieb er stehen und starrte ihn an, den Dolch immer noch in der Hand. Schließlich lockerte er den Griff, und die Waffe fiel mit metallischem Klirren zu Boden.
»Nein …«, stöhnte Benedetta leise.
Als würde er sich plötzlich aus der Erstarrung lösen, holte Mercurio den Leinenbeutel mit den Münzen heraus. »Hier hast du sie! Sie gehören dir!«, schrie er wie von Sinnen und warf den Beutel mit Schwung auf den Kaufmann, der röchelnd am Boden lag und sich die Hände auf die Kehle presste. »Komm hier weg, Mercurio!«, drängte Benedetta und berührte ihn leicht an der Schulter.
Mercurio drehte sich um, ohne sie gleich zu erkennen. Wortlos starrte er sie an, bis er allmählich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte und wusste, wer sie war. Dann sah er auf Ercole hinunter. Auf dessen Hemd hatte sich in Höhe des Magens ein Blutfleck ausgebreitet. Er half ihm auf. »Stütz du ihn auf der anderen Seite«, sagte er zu Zolfo.
Zolfo weinte.
»Stütz ihn!«, befahl Mercurio. Dann sah er Benedetta an. »Gehen wir.«
Sie liefen an dem Kaufmann vorbei und verschwanden im Labyrinth der römischen Gassen.
Als die Wachen kamen, berichtete eine alte Frau, die alles von einem kleinen Fenster auf die Gasse beobachtet hatte: »Den hat ein Priester umgebracht.«
Eine Wache beugte sich über Shimon Baruch. »Der ist nicht tot«, sagte er.
»Den hat ein Priester umgebracht«, wiederholte die Alte.
6
D ie Wirtin schaute rasch auf und starrte Giuditta mit brennenden Augen an. Sie wirkte beinahe erschrocken. Als empfände sie die Furcht armer Leute, wenn ihnen unerwartet Glück zuteilwird. »Was hast du gesagt?«, fragte sie mit tonloser Stimme.
»Mein … mein Vater … ist …«, stammelte Giuditta.
Die Wirtin wandte sich langsam Isacco zu.
»Gute Frau …«, begann Isacco und schüttelte kaum merklich den Kopf, während er nach den richtigen Worten suchte, um sich aus dieser vertrackten Situation zu befreien.
Doch die Frau unterbrach ihn mit einem Wortschwall: »Ihr seid Arzt? Dann müsst Ihr nichts für das Zimmer bezahlen, ich koche Euch, was Ihr wollt, aber bitte rettet mein Kind!«, rief sie leidenschaftlich. »Rettet sie, Doktor.«
Isacco warf seiner Tochter einen tadelnden Blick zu, er fühlte sich mit dem Rücken an die Wand gedrängt. »Ich werde tun, was ich kann, gute Frau«, sagte er unsicher. »Bringt mich zu ihr.«
Die Wirtin lief auf die Treppe zu.
Isacco schaute zu den beiden Betrunkenen am Nebentisch. »Komm lieber mit mir«, sagte er zu Giuditta und wich ihrem Blick aus.
»Mein Mann ist letztes Jahr am Sumpffieber gestorben«, erzählte die Wirtin, während sie den kurzen schmalen Flur am Ende der Treppe
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