Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
bodenlange Talar behinderte ihn. Der Wirt hatte sehr bald aufgegeben. Mercurio hatte gesehen, wie er sich schon nach der ersten Gasse keuchend zusammengekrümmt hatte. Aber jedes Mal wenn er sich jetzt prüfend umsah, war der Kaufmann noch einen Schritt näher gekommen. Mercurio wandte sich in Richtung San Paolo alla Regola. An der Kirche begann ein Labyrinth aus kleinen Gassen, wo sich seine Spur verlieren würde. Mittlerweile hatte der Kaufmann noch weiter aufgeholt. Und hinter ihm glaubte er auf einmal Benedetta zu erkennen, die ihren Rock mit beiden Händen gerafft hielt und wie eine Besessene rannte. Er tat es ihr nach, hob den Talar an, biss die Zähne zusammen und senkte den Kopf. Seine Füße versanken im schlammigen Untergrund, und seine Lungen brannten. Hätte er jetzt den Beutel mit dem Geld weggeworfen, wäre der Kaufmann sicher stehen geblieben, um ihn aufzuheben, und Mercurio wäre gerettet. Aber er wollte sich nicht von den Münzen trennen. Als er in Richtung San Salvatore in Campo abbog, bemerkte er, dass seine Beine immer schwerer wurden. Nicht aufgeben!, dachte er. Er rannte durch eine Reihe enger Gassen. Dann drehte er sich suchend um. Der Kaufmann war nicht zu sehen, doch Mercurio wusste, dass er jeden Moment auftauchen würde. Er bog in eine Gasse voller Unrat ein. Kaum hatte er sie betreten, sah er schon, dass er in der Falle saß. Es war eine Sackgasse. Er hörte den Kaufmann näher kommen und presste sich, den Atem anhaltend, rasch in eine Mauernische zwischen zwei Säulen aus roten Ziegelsteinen.
Shimon Baruch erreichte die Straßengabelung. Trotz des Waffenverbots für Juden hatte er sich einen Dolch mit langem Griff und zweischneidiger Klinge gekauft. Vor ihm lagen drei Straßen, zwei rechts und eine kleine Gasse links, die voller Unrat vom nahen Gemüsemarkt war. »Du sollst verflucht sein!«, schrie er und bog in die Sackgasse ein. Von Verzweiflung überwältigt blieb er stehen, da er den Dieb verloren zu haben glaubte. »Verdammter Kerl!«, schrie er und wandte sich ab, um die Gasse wieder zu verlassen. Doch da hörte er plötzlich ein schmatzendes Geräusch. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er herum und lief zurück.
Mercurio war auf dem Teppich aus Unrat ausgerutscht und hatte dadurch die Aufmerksamkeit des Kaufmanns auf sich gelenkt.
»Hab ich dich, du Dieb!«, rief Shimon Baruch aus. »Gib mir mein Geld zurück!«
»Herr …«, sagte Mercurio und hob die Hände zum Zeichen der Unterwerfung. »Ich habe Euer Geld nicht …«
Shimon Baruch wirkte wie ein Besessener. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Nasenflügel bebten, und er keuchte, weil er so schnell gerannt war. Aus dem offenen Mund lief ihm Speichel. Die Hand mit dem Dolch zitterte, doch er hielt mit einem halbherzigen Hieb auf Mercurio zu und schrie: »Gib mir mein Geld zurück!«
Hinter dem Kaufmann tauchten Benedetta, Zolfo und Ercole auf. Benedetta bedeutete Mercurio, sie nicht zu verraten. Dann flüsterte sie Ercole etwas ins Ohr, und Mercurio sah, wie der Riese den Kopf schüttelte. Seine Augen wirkten angsterfüllt.
Shimon Baruch ging weiter auf Mercurio zu, ohne die leiseste Ahnung, was sich hinter seinem Rücken abspielte. »Du widerlicher Bastard, du wolltest mich zugrunde richten, was? Gib mir mein Geld zurück, oder ich bringe dich um!« Er ging zögernd auf ihn zu, als könnte er sich nicht entschließen, ob er ihn durchbohren oder fliehen sollte. Er schien selbst Angst vor der rasenden Wut zu haben, die ihn ergriffen hatte. Während er vorwärts ging, zitterte er am ganzen Leib, seine Augen waren weit aufgerissen und die Kehle wie ausgetrocknet. Er richtete seine Waffe auf die Brust seines Feindes, der mit dem Rücken zur Wand in der Gasse gefangen war. Um sich Mut zu machen, schrie er dabei, so laut er konnte.
Mercurio war wie gelähmt. Er schloss die Augen.
Benedetta stieß Ercole an.
»Ercole hat Angschd«, wimmerte der Riese.
Genau in dem Moment, als Zolfo Ercole einen Fußtritt versetzte, wandte sich der Kaufmann abrupt um. Der Riese ging mit ausgestreckten Armen auf den Kaufmann zu, um ihn zu entwaffnen. Aber ob es nun aus Furcht oder Unbeholfenheit geschah, Ercole stolperte und taumelte auf den Kaufmann zu. Der war genauso erschrocken und versenkte seinen Dolch unabsichtlich in Ercoles Leib.
Mercurio hörte ein unterdrücktes Stöhnen, das wie ein Ausruf des Erstaunens klang. Als er die Augen öffnete, sah er, wie die Spitze des Dolches rot und blutüberströmt aus Ercoles Rücken
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