Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
aufstehen.«
»Du sollst ihn nicht so nennen«, sagte Giuditta, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Das war doch nur Spaß.«
»Mach keine Witze darüber.«
Mercurio nickte lächelnd, küsste sie und schlüpfte die Treppe hinunter, um sich gleich unter die Leute zu mischen, die am Tor schon darauf warteten, das Ghetto zu verlassen. Doch einen Augenblick später kehrte er noch einmal in den Taubenschlag zurück. »Habe ich dir eigentlich gesagt, dass ich dich liebe?«
Giuditta strahlte über das ganze Gesicht.
»Auf immer und ewig«, sagte Mercurio zu ihr und verschwand.
»Auf immer und ewig«, wiederholte Giuditta. Sie ging hinunter in die Wohnung, bereitete Isacco sein Frühstück, und als er ging, wünschte sie ihm einen guten Arbeitstag. Allein zurückgeblieben, setzte sie sich an den Tisch und nahm aus einem Spalt in der Wand den Brief, den sie heimlich geschrieben hatte und jeden Abend dort versteckte. Sie las ihn noch einmal durch.
Mein geliebter Vater,
mit dem größten Schmerz in meinem Herzen erzähle ich dir von meiner größten Freude. Ich weiß weder, wie ich diesen Schmerz überleben werde, noch wie ich auf diese Freude verzichten könnte. Könnte ich mich zweiteilen, ich schwöre dir, ich würde es tun. Wäre ich in der Lage, gleichzeitig eine gute Tochter und eine gute Ehefrau zu sein, ich schwöre dir, ich würde es sein. Wenn ich es vermeiden könnte, dir das Herz zu brechen, ich schwöre dir, ich würde es liebend gern tun. So wie ich nicht dem Mann das Herz brechen will, dem ich meine Liebe versprochen habe. Ich bete von ganzem Herzen, dass noch ein Wunder geschieht und wir ein anderes Leben haben können als das, was uns jetzt erwartet. Ich bete dafür, dass ich mein Leben mit dir verbringen kann, wie ich darum bete, es mit dem Mann, den ich liebe, verbringen zu dürfen. Doch wie mein Leben von nun an aussehen wird, kann ich nicht sagen. Und kann man das wirklich Leben nennen, wenn es einerseits Liebe und andererseits Tod ist? Was für ein Leben kann es für ein Herz geben, das in der Mitte entzweigerissen wird?
Ich weiß nicht, ob du mir jemals vergeben kannst, denn ich weiß nicht einmal, ob ich mir selbst vergeben kann.
Doch meine Entscheidung steht fest.
Jedes Mal wenn sie diesen Brief aufs Neue las, presste es ihr das Herz zusammen. Auf diesem einen Blatt stand alles, was sie bewegte. Doch auch ohne die Worte auf dem Papier wurde ihr mit jedem Tag nur noch bewusster, dass sie zu Mercurio gehörte. Nichts würde sie zurückhalten können. Ihre Entscheidung stand fest, hatte sie geschrieben, und es stimmte. Sie würde Mercurio überallhin folgen. Denn er war ihr Leben. Das Leben, das sie sich von ganzem Herzen wünschte.
»Koste es, was es wolle«, sagte sie leise, doch entschieden. »Auf immer und ewig.«
Manchmal, wenn Mercurio nicht kam, um sie in den kalten und stinkenden Taubenschlag zu führen, der ihr jedoch wie das Paradies vorkam, zweifelte Giuditta, ob sie gut daran getan hatte, ihre Jungfernschaft zu opfern. Sie versuchte dann sogar, sich dessen zu schämen, wie es die gesellschaftlichen Regeln verlangten. Aber es gelang ihr nicht. Sie verstand dieses Gebot zwar, doch gleichzeitig kam es ihr so vor, als gelte es nur für die anderen. Sie und Mercurio waren etwas Besonderes, und ihre Liebe war so groß und allmächtig, dass nichts von dem, was sie im Namen dieser Liebe taten, falsch sein konnte.
Mit der Zeit würde auch ihr Vater sich dieser unabdingbaren Wahrheit beugen, dessen war sich Giuditta gewiss. Wie hätte es auch anders sein können? Wie sollte jemand behaupten, eine so reine Liebe könnte vor den Augen des Herrn eine Sünde sein? Hatte nicht er selbst, der allmächtige Gott, es so eingerichtet, dass sie sich begegneten?
Giuditta erinnerte sich an den Tag, als sie zum ersten Mal Mercurios Hand in ihrer gehalten hatte. An ihren ersten Kuss. An das erste Mal, dass sie ihn in sich aufgenommen hatte und sich ihre Körper untrennbar zu einem einzigen vereint hatten. Würde sie wieder so handeln? Ja, tausendmal ja, ohne jedes Zögern.
»Auf immer und ewig«, wiederholte sie.
Als es an der Tür klopfte, fuhr Giuditta erschrocken von ihrem Stuhl hoch. Sie legte eine Hand an die Brust und lächelte, als sie aus ihrem Tagtraum wieder in den Alltag zurückkehrte. Sie ließ den Brief auf dem Tisch zurück und ging zur Tür.
»Wer ist da?«, fragte sie.
»Seid Ihr Giuditta, die Jüdin?«, fragte eine Männerstimme. »Meine Herrin verlangt nach Euch.«
Giuditta
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