Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
in Mestre liegt?«, sagte Mercurio und löste sich von ihr, um ihr direkt in die Augen sehen zu können. »Und weißt du, was das bedeutet?«
»Nein …«
»Dass dein Vater früher oder später Annas Angebot annehmen wird, dort ein Zimmer zum Übernachten zu haben.«
»Aber wir dürfen doch nicht außerhalb des Ghettos schl …«
»Siehst du, du bist genauso begriffsstutzig wie dein Vater«, unterbrach Mercurio sie lachend.
Giuditta verzog schmollend den Mund.
Daraufhin lachte Mercurio noch herzhafter. »Ich habe gesagt, in Mestre. Begreifst du denn nicht?«
»Nein.«
»Du musst nur im Ghetto schlafen, wenn du in Venedig lebst. In Mestre gibt es keine Ghettos, da wird niemand eingesperrt. Da kannst du schlafen, wo du willst. Du müsstest also nur nach Mestre umziehen.«
»Wirklich? Und wohin? Sag schon!«
»Heiliger Himmel, kannst du wirklich so begriffsstutzig sein? In mein Haus!«, sagte Mercurio lachend. »Anna hat deinem Vater ja schon ein Zimmer dort angeboten, so kann er Tag und Nacht in der Nähe seines Krankenhauses sein. Und für dich steht auch eins bereit.« Er umarmte sie und streichelte sie. »Was ist los? Möchtest du nicht mit mir unter einem Dach wohnen?«
Giuditta starrte ihn an. »Das wird mein Vater niemals zulassen«, sagte sie dann traurig.
»Das werden wir noch sehen.« Er erhob sich von dem Strohlager im Taubenschlag und reckte sich. »Wenn wir nicht bald in einem richtigen Bett miteinander schlafen, werden wir frühzeitig alt und gebrechlich.«
Giuditta kicherte.
»Ich habe noch neunzehn weitere Goldstücke verdient«, erzählte Mercurio. »Bald werde ich das Geld zusammenhaben, damit wir Zuans Schiff herrichten können. Und dann werde ich dich von hier fortbringen.«
Giuditta sah ihn ernst an. Mit jedem Tag schien sie ihm mehr anzugehören. So sehr, sagte sie sich, dass sie eigentlich nur noch ihm allein gehörte. Deshalb hatte sie einen Brief geschrieben, den sie immer wieder von Neuem durchlas, weil sie wusste, dass sie ihn bald für ihren Vater zurücklassen würde. Einen Brief, der von ihrem tiefsten Kummer erzählte. Und gleichzeitig von ihrer höchsten Freude. »Wie geht es mit deinem Laden voran?«, fragte Mercurio sie. »Ich sehe immer viele Kunden.«
Giudittas Gesicht leuchtete auf. »Ja«, sagte sie stolz. »Meine Kleider gefallen den Leuten. Wir verkaufen mehr, als wir nähen können. Und wir haben auch Kundinnen aus dem Adel. Es ist … es ist …«
»Ein Erfolg«, schloss Mercurio.
»Ja, ein Erfolg«, wiederholte Giuditta lachend.
»Wo auch immer wir hingehen, du wirst auch da deinen Laden haben, versprochen«, sagte Mercurio und legte sich bekräftigend eine Hand aufs Herz. Dann zog er sich an. »Und ich werde nicht zulassen, dass unsere zwölf Kinder dich davon abhalten, einen Haufen Geld zu verdienen.«
»Und was wirst du tun?«, fragte Giuditta lächelnd.
»Na, ich werde schön zu Hause bleiben und nachschauen, ob die hübsche junge Kinderfrau, die von deinem unerhörten Verdienst bezahlt wird, den Kleinen ordentlich den Hintern abwischt. Dann werde ich nachschauen, ob die Köchin, die natürlich ebenfalls jung und hübsch ist, das beste koschere Fleisch zubereitet. Und ich werde mit einem Finger über den Boden fahren, um mich zu versichern, dass das noch viel jüngere und hübschere Dienstmädchen gründlich gefegt hat.«
Giuditta lachte schallend, sprang auf und warf sich in seine Arme. »Ich werde dir nicht einmal ein halbes Kind schenken, und vor allem werden wir keine Dienerschaft haben. Denn ich habe nicht die leiseste Absicht, dich mit jemandem zu teilen.«
Mercurio küsste sie, und seine Hände fuhren zärtlich die glatte Haut ihres Rückens entlang.
Giuditta entzog sich ihm. »Lass, es ist schon spät«, sagte sie. Während sie ihren Rock anzog, sah sie wie nebenbei in den inneren Nahtsäumen nach. »Habe ich dir eigentlich erzählt, dass eine Kundin in einem meiner Kleider eine Rabenfeder gefunden hat?«
»Wie kam die denn da hin?«, fragte Mercurio unaufmerksam, während er seine Jacke zuknöpfte.
»Seltsam, nicht wahr?«, erwiderte Giuditta nachdenklich. »Und eine zweite hat einen Milchzahn gefunden.«
»Vielleicht solltest du deine Näherinnen anweisen, besser aufzupassen.«
»Ich kann mir das nicht erklären …«
»Was gibt es da zu erklären?«
»Ich weiß nicht … Es ist irgendwie merkwürdig …«
»Denk nicht mehr darüber nach und beeil dich lieber. Gleich wird die Marangona-Glocke läuten und der Hurendoktor
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