Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Wams aus und wickelte sich den Verband um seine Brust neu. Inzwischen schmerzten ihn die gebrochenen Rippen nicht mehr so stark. In der ersten Woche hatte er Blut gespuckt und gedacht, er würde daran krepieren. Die Wunde an seinem Bein hatte sich entzündet. Trotzdem hatte er sich auf dem Land versteckt und gelebt wie ein streunender Hund, aus Angst, die Wachen des Papstes würden nach ihm suchen. Schließlich hatte er ein Feuer angezündet und einen spitzen Holzstock darin erhitzt, den er sich in die Wunde gerammt hatte. Das Feuer hatte ihn schon einmal gerettet, als es ihm die Wunde an der Kehle geschlossen hatte, deshalb dachte er, am Bein würde es ebenso wirken. Und genauso war es geschehen. Doch wenn er zu lange lief, schmerzte ihn der Schenkel immer noch stark, und er hatte bemerkt, dass er jetzt hinkte. Er fühlte sich an die römischen Straßenkatzen erinnert, die sich mit von Narben durchzogenem Fell und zerfetzten Ohren so gern in den Ruinen des Circus Maximus sonnten.
Shimon verließ sein Zimmer. Dies war für ihn die schlimmste Zeit des Tages. Es gelang ihm, jeden anderen Gedanken von sich fernzuhalten, nur nicht das Bild von sich in Esters Haus zu dieser Stunde: wie er im Sessel saß und auf Ester lauschte, die am Kamin in einem Topf das Abendessen wärmte.
Shimon ging hinunter auf die Straße.
Er lief ziellos umher, einzig darauf bedacht, jenes Bild seines größten Verlustes aus seinen Gedanken zu verbannen. Das Bild eines friedlichen Heims, in dem ein Mann für immer hätte bleiben können.
Seit er Ester verlassen hatte, war sein Hass auf Mercurio stetig gewachsen. Schließlich hatte Mercurio ihm sein früheres Leben genommen und nun auch die Aussicht auf ein neues Leben mit Ester.
Du wirst keine Ruhe haben, bevor du diesen verdammten Jungen nicht findest und ihn dafür bezahlen lässt.
Zerfressen von seinem Hass gelangte Shimon wie von selbst auf einen riesigen Platz, der sich ganz unvermittelt vor ihm auftat. Vor sich sah er eine Basilika und einen hohen Turm, während sich rechts von ihm der Canal Grande endlos weit auszudehnen schien.
Er stand auf dem Markusplatz.
Hier war alles offen, nichts schränkte den Blick auf den Horizont ein.
Dann sah er, dass sich vor einer Säule eine Menge Leute drängten. Neugierig kam er näher. Ein halbnackter Mann mit Todesangst in den Augen stand dort, mit Händen und Füßen an vier unruhige, große Pferde gefesselt, denen Schaum aus dem Maul troff.
»Sodomit!«, schrie eine Frau.
Dann schnalzte der Henker mit der Peitsche, und die vier Pferde preschten in alle Himmelsrichtungen los. Der gefesselte Mann schrie laut, und seine Gliedmaßen wurden unnatürlich gedehnt. Man hörte, wie Knochen brachen und Sehnen rissen. Der Mann stieß einen letzten Schrei aus, kotzte sich die Seele aus dem Leib und wurde ohnmächtig.
Mit zwei schnellen Beilhieben schnitt der Henker die Schultergelenke ein, worauf sich unter dem Zug der Pferde die Arme vom Körper trennten. Blut spritzte auf das Pflaster. Dann hieb der Henker auf die Hüftgelenke ein, die noch standgehalten hatten, und auch die Beine des Verurteilten wurden auseinandergerissen, wobei die Eingeweide auf den Boden spritzten.
Die Leute wogten vor und zurück wie ein einziger Leib.
Es roch nach Blut und Angst.
Shimon berauschte sich an der Größe dieser grauenvollen Szene.
Und nun zu uns beiden, Mercurio, dachte er, während die vielen Tauben erschrocken aufflatterten. Sie flüchteten vor einem Schwarm Raben, die sich auf die Überreste des Verurteilten stürzten. Shimon betrachtete die schwarzen Vögel und sah in diesen Unglücksboten ein gutes Zeichen.
Dann hob er schnuppernd die Nase in die Luft wie ein Jagdhund. Als könnte er seine Beute schon wittern.
68
W as für einen Streich hast du meinem Vater denn nun gespielt?«, fragte Giuditta auf ihrem geheimen Lager im Taubenschlag und presste sich eng an Mercurios warmen Körper. »Seit gestern schimpft er vor sich hin, du hättest ihn gehörig übers Ohr gehauen.«
Mercurio lachte: »Ja, das stimmt. Er ist mir auf den Leim gegangen wie ein Anfänger. Ich habe mich köstlich amüsiert.«
»Aber was genau hast du denn mit ihm gemacht?«
»Ich habe ihm ein Krankenhaus geschenkt.«
»Ein Krankenhaus?«
»Ja, wirklich«, erklärte Mercurio stolz. »Schließlich ist er immer noch der Vater der Frau, die ich liebe, oder?«
Giuditta lachte leise. »Dir ist schon klar, dass du vollkommen verrückt bist, nicht?«
»Weißt du, dass dieses Krankenhaus
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