Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
wartete, dass die anderen den eben geworfenen Leichnam gerade hinlegten. Mercurio sprang zu ihm hinunter und nahm ihm die Schaufel aus der Hand. »Geh zu Ercole«, sagte er, woraufhin Zolfo zu weinen begann. Mercurio verwandte keine Zeit darauf, ihn zu trösten, und Zolfo kletterte die Böschung hoch und verschwand. Mit der Gewandtheit dessen, dem die Arbeit vertraut ist, vermengte Mercurio den ungelöschten Kalk mit der Erde. Er arbeitete bis zum Einbruch der Nacht, mühte sich ab, um unangenehme Gedanken fernzuhalten. Dann kehrte er zur Baracke zurück und löffelte dort eine Schüssel wässriger Schwarzkohlsuppe in sich hinein.
Benedetta und Zolfo saßen am Lager ihres Freundes, der nunmehr stark fieberte.
Mercurio trat aus der Hütte heraus und ging langsam zu dem Gräberfeld. Im schwachen Licht eines von dünnen Wolken verhangenen abnehmenden Mondes spähte er in jedes Massengrab.
»Tust du das immer noch, Junge?«, fragte jemand hinter ihm.
Mercurio drehte sich zu der spindeldürren Gestalt Scavamortos um. »Was?«
»Als ich dich den Mönchen von San Michele Arcangelo abgekauft habe, hast du Stunden damit verbracht, in die Gräber zu schauen. Eines Tages habe ich dich gefragt, warum du das tust, und du hast mir geantwortet, dass du nur sehen wolltest, ob deine Mutter dort läge«, sagte Scavamorto und klang nun nicht mehr spöttisch.
Mercurio sagte nichts. Aber er versteifte sich.
Scavamorto lachte. »Erinnerst du dich etwa nicht daran?«
»Lass mich in Ruhe«, knurrte Mercurio.
»Du sagtest, du würdest sie erkennen, auch wenn du sie noch nie gesehen hättest, eben weil sie deine Mutter wäre.«
»Kleinkindergewäsch«, antwortete Mercurio düster.
»Vielleicht. Aber das Interessanteste daran war, dass du sie unter den Toten und nicht unter den Lebenden gesucht hast. Du musst schon sehr wütend auf sie gewesen sein.«
»Das alles schert mich einen Dreck, Scavamorto.«
»Heißt das, du suchst sie jetzt nicht mehr unter den Toten?«
»Ich suche nicht nach ihr und damit basta.«
Scavamorto lachte wieder. Aber leise und ganz ohne die übliche Gemeinheit. »Los, erzähl schon … Wer war deine Mutter, Mercurio?« Er legte ihm eine Hand in den Nacken, ohne zuzupacken, eher so, wie es ein Vater oder ein Lehrer tun würde.
Und Mercurio wehrte sich nicht. Er spürte einen Kloß im Hals. »Sie war eine vornehme Dame …«, begann er, als würde er eine alte Geschichte erzählen. »Sie war unglücklich und hatte einen echten Dreckskerl zum Mann, der sich an allen Kriegsschauplätzen der Welt herumtrieb … So landete sie mit einem jungen, stattlichen Diener im Bett und wurde schwanger. Und bevor der Mann zurückkehrte, gab sie ihren Bastard fort und ließ den Diener umbringen …«
»Oder?«, fragte Scavamorto.
»Meine Mutter war eine bescheidene Dienstmagd … und hatte einen echten Dreckskerl zum Herrn, der niemals in den Krieg zog und sie jede Nacht missbrauchte. Und als er bemerkte, dass sie ein Kind erwartete, setzte er sie auf die Straße. Sie brachte mich zu einer Drehlade für Findelkinder, erstach den Herrn und wurde auf der Piazza del Popolo gehenkt.«
»Oder?«
»Ich hab genug von dem Spiel, Scavamorto«, sagte Mercurio und machte sich von ihm los. »Ich bin kein kleiner Junge mehr.«
»Oder …?«
»Meine Mutter …« Ein trauriger Schleier legte sich über Mercurios Augen.
»… war eine Waise …«, schlug Scavamorto vor.
»… und ein Priester hat sie gebumst«, fuhr Mercurio fort. »Deshalb musste sein Sohn immer diesen albernen Priestertalar tragen.«
Scavamorto lachte. »Oder sie war …«
»Es reicht. Das ist ein Scheißspiel.«
» Wer war meine Mutter ist ein großartiges Spiel«, widersprach Scavamorto. »Ich spiele es auch mit den anderen Waisen. Aber keiner ist so gut darin wie du. Diese kleinen Arschlöcher verrennen sich in eine Geschichte und kommen dann nicht mehr davon los. Du hingegen kannst dir jeden Tag eine neue Mutter erfinden …«
»Scavamorto …«
»Die haben keine Fantasie …«
»Heute habe ich einen Mann umgebracht«, sagte Mercurio atemlos. »Einen jüdischen Kaufmann.«
Scavamorto kratzte mit der Stiefelspitze ein wenig Erde beiseite.
»Man wird mich hängen«, fuhr Mercurio fort, so leise, dass er sich beinahe selbst nicht hörte.
Beide schwiegen. Die Wolken, die still vor dem Mond dahinzogen, ließen die Leichen in den Gräbern aufblitzen und wieder verschwinden.
Mercurio schloss die Augen und sagte: »Ich habe Angst.«
»Das verstehe ich«,
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