Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Ghettos. Daher musste er der Menge nun allein Einhalt gebieten.
Die Leute wurden nun langsamer, blieben aber immer noch nicht stehen. »Im Namen Gottes, haltet ein!«, schrie nun auch Anna del Mercato und stellte sich den Leuten entgegen.
»Aus dem Weg, Anna!«, schrie der alte Mann, der die wütenden Leute anführte. »Sei verflucht dafür, dass du Huren und Juden hierhergebracht hast!« Er schob sie so grob zur Seite, dass sie zu Boden fiel.
Lanzafame rannte zu ihr, sein Schwert drohend auf die Menge gerichtet.
Angesichts der Waffe blieben die vorderen stehen. Doch die Leute dahinter drängten grölend weiter vorwärts.
»Kommt! Beeilt Euch!«, rief Lanzafame und half Anna beim Aufstehen. Er wusste, dass er die Meute nur noch kurze Zeit aufhalten konnte.
Annas Augen waren ängstlich aufgerissen. Sie war wie gelähmt.
Die Menge schob sich drohend vorwärts.
»Komm schon, Frau!«, brüllte Lanzafame.
Doch anstatt aufzustehen, legte sich Anna nur schützend einen Arm vors Gesicht.
»Verschwindet, ich kümmere mich schon um sie«, sagte Mercurio, der in diesem Moment eingetroffen war und nun Anna hochzog. »Los, mach schon!«
Anna schien sich auf einmal wieder zu besinnen, was um sie herum geschah, und ließ sich von Mercurio auf den Stall zu führen. Lanzafame folgte ihr und hielt die immer noch vor Wut kochende Menge mit seinem gezückten Schwert in Schach.
Als sie die Stalltür erreicht hatten, klammerte sich Anna an Mercurio. »Warum? Warum nur?«, flüsterte sie.
»Weil das Leben eine einzige Scheiße ist«, erwiderte Mercurio hart. »Hast du das in deinem Alter immer noch nicht begriffen?« Dann machte er Anstalten, sich auf den Anführer der Menge zu stürzen.
Isacco packte ihn heftig am Kragen und hielt ihn zurück.
Mercurio fuhr herum und funkelte ihn wütend an, doch Isacco hielt stumm seinen Blicken stand, ohne seinen Griff zu lösen.
Die Menge ließ einen Steinhagel auf sie niedersausen.
»Los, rein da! Macht schon!«, brüllte Lanzafame.
Mercurio riss sich los, sammelte die Steine auf, die man gegen sie geschleudert hatte, und warf sie nun mit all der Wut, die er selbst in sich trug, zurück.
Jemand in der Menge fiel getroffen zu Boden. Darauf drängten die Leute nicht mehr so stark vorwärts. Viele blieben stehen, und die, die dennoch weiter vorrückten, wurden sichtlich langsamer, als sie plötzlich merkten, dass sie nur noch wenige waren. Unsicher sahen sie sich um und schrien dann noch lauter, um die Tatsache zu überspielen, dass auch sie sich einer nach dem anderen in den Schutz der übrigen Menge zurückzogen.
Isacco trat vor. »Womit stören wir euch, gute Leute?«, fragte er.
»Wir wollen keine Huren und Juden in Mestre!«, schrie die aufgebrachte Menge.
»Und warum nicht?«, fragte Isacco. »Die Frauen sind krank …«
»Es sind Huren! Huren!«
»… und ich bin Arzt …«
»Jude! Du dreckiger Jude!«
Lanzafame kam auf ihn zu. »Geh hinein, Doktor«, sagte er.
»Nein! Ich will mich nicht mehr verstecken!«, knurrte Isacco.
Mercurio stand in der Tür und betrachtete die Menge. Er sah den Hass in den Augen der Menschen, ihre Wut und ihre Verzweiflung, und er erkannte sich in ihnen wieder. Er musste an den Treibsand denken, in dem er zu versinken drohte. Und in dem Moment hatte er das Gefühl, dass sie alle längst an ihrem eigenen Schicksal erstickt waren. Verdammt. So wie er selbst verdammt war.
Doch dann löste sich aus der immer noch brodelnden Menge ein junger Mann. Zögernd bewegte er sich vorwärts und starrte die ganze Zeit Isacco an. Er war groß und blond und hatte nur noch einen Arm. Der andere war auf Höhe des Ellbogens amputiert.
Auf einmal trat Stille ein. Alle hielten gespannt den Atem an.
Der junge Mann blieb einige Schritte von Isacco entfernt stehen.
Mercurio wollte sich schon auf ihn stürzen, als sich das Gesicht des jungen Mannes zu einem Grinsen verzog. Dann hob er seinen Stummel und schwenkte ihn vor Isaccos Gesicht. »Den Arm habt Ihr mir abgenommen.« Dann drehte er sich um und blickte forschend in die Menge. »Susanna!«, schrie er, als er die Gesuchte entdeckt hatte, und schwenkte immer noch lächelnd seinen Armstummel. »Der da hat ihn mir abgenommen!«
Verständnisloses Raunen ging durch die Menge.
Eine junge Frau mit langen blonden Haaren und einem Kleinkind auf dem Arm trat hervor. Sie warf dem jungen Mann einen zärtlichen Blick zu und kam mit raschen Schritten nach vorn. Dann übergab sie ihm das Kind und kniete sich vor Isacco hin.
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