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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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ängstlich an: »Nein, bitte … Tu mir nicht weh …«
    Endlich zog sich Mercurio keuchend aus ihr zurück. Seine zur Faust geballten Finger öffneten sich. Er nahm eine Münze und warf sie auf den Tisch. Dann zog er sich die Hose hoch und verließ taumelnd den Raum, in dem er zu einer wütenden Bestie geworden war.
    »Scheißkerl! Elendes Stück Dreck!«, rief ihm die Hure nach, als er sich ein Stück entfernt hatte.
    Doch Mercurio hörte sie kaum noch. Er betrachtete seine Hände, als wären sie blutbefleckt.
    Seine Knie gaben immer wieder nach, aber er ging trotzdem weiter voran, mit schweren Schritten durch die schlammigen Straßen schlurfend.
    Er folgte dem Rio di Santa Giustina bis zur Lagune, wo er zur Insel San Michele hinübersah. Am Ufer bemerkte er wieder eine verhärmte Frau, die ihr mageres Kind zur erbärmlichen Latrine am Ende des brüchigen Stegs begleitete. Mercurio sah die Ratten, die im fauligen Wasser zwischen den menschlichen Ausscheidungen schwammen. Er roch den Gestank vergammelter Fischreste und sah, wie ein Betrunkener mit dem Gesicht in eine Schlammpfütze fiel. Und wie kleine Kinder den Mann auslachten und mit Stöcken nach ihm stachen.
    Dann nahm er nichts mehr von seiner Umgebung wahr, weil er mit einem Mal tief in seiner eigenen Vergangenheit versunken war. Er sah sich selbst wieder in dem Abwasserkanal vor der Tiberinsel. Er sah sich angekettet auf der Pritsche in Scavamortos Schlafsaal liegen. Sah sich in den Massengräbern Erde und Löschkalk über die Leichen der Armen verteilen, die nicht einmal ein Anrecht auf einen Sarg hatten. Und er sah sich in den eiskalten Räumen des Waisenhauses von San Michele Arcangelo. Seine von der Kälte angegriffenen Hände, die mit Wunden übersäten Finger, die gelb-violett angelaufen waren. Den Mönch, der seine dünne Weidengerte erhob und auf seinen mageren Rücken niedersausen ließ. Er sah den Holznapf wieder vor sich, in den man ihnen im Speisesaal nur eine einzige Schöpfkelle Suppe gab.
    Und schließlich erstieg vor seinem inneren Auge ein Bild, das sich ihm bislang so noch nie offenbart hatte.
    Eine Frau, eine Hure wie jene, die er gerade im Castelletto genommen hatte. Sie schleppte sich müde die Stufen eines Waisenhauses hinauf, mit einem Bündel in der Hand. Ein Neugeborenes, in dem er sich selbst erkannte. Die Hure legte es in der Kälte in der Drehklappe ab und zischte ihm zu: »Ich hoffe, dass du krepierst, du Bastardbalg!« Mit der gleichen Wut wie die der Männer, die sie besessen hatten. So wie er gerade über diese Frau hergefallen war.
    Wut, die Wut erzeugte. Und er war aus dieser Wut heraus geboren. Eine Kette, die niemals endete.
    Im gleichen Moment erkannte Mercurio, dass er immer noch darin gefangen war, ein Sklave seiner Herkunft. Als hätte er sich niemals von der Drehklappe und dem Waisenhaus befreit. Alle Anstrengung war umsonst. Menschen wie er waren im Treibsand geboren. Und daraus hatte sich noch niemand gerettet.
    Er erwachte aus seiner Versenkung und blickte sich um. Und dann erstarrte er.
    Zuan dell’Olmo hatte das Schiff aufs Trockene schaffen lassen. Der Kiel wurde von kräftigen Baumstämmen gestützt, und das Dach der Werft war geflickt worden.
    Mercurio näherte sich und betrachtete das Schiff, mit dem er Giuditta hatte fortbringen wollen, auf der Suche nach einer besseren Welt. Einer freien Welt.
    Er kniete sich hin, hob einen großen Stein auf und warf ihn mit aller Kraft gegen den Kiel des Schiffes.
    Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Mosè kam angelaufen, wagte aber nicht, sich ihm zu nähern. Er wedelte ängstlich mit eingekniffenem Schwanz und jaulte leise.
    Als Mercurio noch einen Stein aufsammelte und ihn gegen das Schiff schleuderte, rannte Mosè panisch davon.
    »Wer ist da?«, rief Zuan dell’Olmo und trat besorgt vor die Werft.
    Mercurio antwortete ihm nicht.
    »Ach, du bist’s …«, sagte der alte Mann. »Was ist denn mit dir los?«
    Mercurio drehte sich zu ihm um. »Versenk es!«
    »Was sagst du da, Junge?« Zuan sah ihn nun genauso erschrocken an wie vorher Mosè.
    »Du hast doch immer gejammert, du hättest kein Geld, um es zu versenken, oder?«, erklärte Mercurio hart, als gäbe es in ihm nur noch Hass. Er zog elf Goldmünzen aus der Tasche, die Summe, für die er einst das Schiff gekauft hatte, und warf sie vor Zuan auf den Boden.
    »Gut, jetzt hast du genug. Du hast mir das Schiff verkauft. Es gehört mir. Und ich sage dir: Versenk es!«
    Zuan klappte seinen zahnlosen Mund auf.

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