Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
vollständig mit Bahnen aus purpurroter Seide verkleidet, die anscheinend auf den Scheiterhaufen anspielen sollte, den die Kirche für Giuditta vorbereitete. Die Tribüne bestand aus zwei Ebenen. Auf der oberen befand sich ein vergoldeter Thron, dessen Rückenlehne so hoch war, dass es aussah, als würde sie geradewegs in den Himmel führen. Ein wenig unterhalb dieser Ebene, aber immer noch gut sichtbar für die Menge, sogar für die Leute ganz hinten auf der Piazzetta, hatte man vier Sessel aufgestellt, auf denen der Heilige, laut bejubelt von der Menge, und drei andere schwarz gekleidete Männer der Kirche mit ernster Miene Platz genommen hatten. Zu beiden Seiten des Proszeniums, wenn man es denn so nennen wollte, weil der ganze Aufbau wie eine Bühne für eine Theatervorstellung wirkte, erhoben sich zwei Turmgerüste, an deren unterem Ende sich je eine Seilwinde befand. Von deren Spitzen ragte je ein Arm über die Bühne, und in der Mitte vereinigten sich die beiden Streben, an denen dicke ineinander verflochtene Taue eine Art Holzkäfig hielten, der genau vor der Tribüne stand.
Mercurio und Isacco, die in der Menge standen, sahen sich besorgt um. Beide schwiegen, ja sie schienen nicht einmal zu atmen. Ihre Gesichter waren bis zum Äußersten angespannt und wirkten in ihrer Starre wie in Stein gemeißelt.
Als die Zeit gekommen war, schritt der Patriarch Antonio Contarini feierlich heran. Seine lange Schleppe wurde von vier Messknaben getragen. Die Menge verstummte. Der Patriarch stieg die Stufen der Tribüne bis ganz nach oben und setzte sich auf den Thron. Dann wandte er sich dem Dogenpalast zu und gab ein Zeichen.
Daraufhin wurde Giuditta von Hauptmann Lanzafame und seinen Soldaten herangeführt.
Die Menge schrie laut auf und rief ihr Schmähungen zu.
»Hab keine Angst«, sagte Lanzafame zu Giuditta. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«
Giuditta spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Verängstigt und voller Scham schleppte sie sich vorwärts.
»Wie haben sie meine Tochter bloß zugerichtet?«, flüsterte Isacco, kaum dass er sie erblickte.
Mercurio senkte die Augen, als könnte er den Anblick nicht ertragen. »Diese Scheißkerle«, knurrte er.
Die von Fra’ Amadeo angewiesene Prostituierte hatte Giudittas Gesicht mit einer dicken Schicht Bleiweiß eingeschmiert. Dann hatte sie grellrote Schminke auf ihren Wangen und Lippen verteilt und ihr einen Herzmund geschminkt. Mit einem Pinsel hatte sie die Lider mit dunklem Bister bestrichen. Von den Augenbrauen führten blaue Striche nach außen. Giudittas Haare waren hochaufgetürmt bis auf zwei Strähnen, die ihr über die Schultern fielen und die die Hure blau und gelb gefärbt hatte. Sie trug ein Kleid, dessen weiter Ausschnitt einen großen Teil ihres Busens entblößte, und man hatte ihr Schuhe mit spannenhohen Keilsohlen angezogen, wie nur Kurtisanen sie trugen.
»Was haben sie dir bloß angetan?«, sagte eine Frau zu ihrer Rechten. Giuditta wandte sich zu ihr um und erkannte Octavia, der tiefster Schmerz ins Gesicht geschrieben stand.
»Hure!«, schrie eine Frau neben Octavia.
»Hexe!«, rief eine andere.
Giuditta sah, dass auch Ariel Bar Zadok gekommen war, die Schneiderinnen, der Zuschneider Rashi Sabbatai, alle Frauen aus der jüdischen Gemeinde, die als Erste ihre Hüte gekauft hatten, und sogar der kräftige, ungelenke Joseph, der errötete, als sich ihre Blicke begegneten.
»Hure! Nimm das zurück!«, schrie eine Frau und schleuderte Giuditta ein Kleid entgegen.
Giuditta erkannte sie. Es war eine ihrer Kundinnen. Und das Kleid, das sie ihr zugeworfen hatte, war eines ihrer Kleider. Der angeblich verhexten Kleider.
Lanzafames Soldaten zeigten sich bereit einzuschreiten. Sie hatten Befehl, dass Giuditta nichts geschehen durfte. Sie musste beschützt werden wie das heiligste Gut, hatte ihnen Lanzafame eingeschärft, der Giuditta jetzt mit gezogenem Schwert durch die Menge geleitete.
Als sie die Tribüne erreichten, musste Giuditta den Holzkäfig vor dem Aufbau besteigen. Die Seilwinden an den Turmgerüsten zu beiden Seiten setzten sich in Bewegung, und die Hanfseile, an denen das Gefängnis hing, strafften sich ächzend. Der Käfig schwankte.
Giuditta klammerte sich ängstlich an die Gitterstäbe.
»Hab keine Angst«, sagte Lanzafame.
Der Käfig hob vom Boden ab. Ächzend zogen ihn die Taue hoch. Und je höher der Käfig gezogen wurde, desto schweigsamer wurde die Menge wie angesichts eines
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