Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
hatte.
Mercurio schien es, als läge erneut ein Hauch von Wehmut in Giustinianis wunderschönen blauen Augen, und er dachte einen Moment lang, dass der Adlige es ihm nicht zurückgeben würde.
Doch plötzlich streckte der Edelmann es ihm hin, beinahe wütend oder als würde es ihm zwischen den Fingern brennen.
»Noch etwas, Euer Gnaden«, sagte Mercurio und nahm das Siegel entgegen.
Jacopo Giustiniani starrte ihn an.
»Wird Giuditta einen Verteidiger bekommen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte der Edelmann. »Die Inquisition hasst es zu verlieren.«
»Bitte, gewährt ihr diese Möglichkeit. Es liegt doch in Eurer Macht.«
»Das geht nur die Kirche etwas an. Das Kirchenrecht sieht vor, dass ein Prozess der Inquisition unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Verteidiger abgehalten wird.«
»Aber dieser Prozess findet nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt …«
»Nein. Sie wollen diese Hexe für ihre politischen Zwecke missbrauchen«, sagte der Adlige nachdenklich.
»Ihr habt die Macht.«
Jacopo Giustiniani sah ihn schweigend an.
»Gebt ihr die Möglichkeit für einen gerechten Prozess«, bat Mercurio.
»Du hast es nicht begriffen, nicht wahr?«, sagte der Adlige ganz offen und ohne belehrend zu klingen. »Ein Prozess der Heiligen Inquisition ist niemals gerecht.«
»Bitte, gewährt ihr diese Möglichkeit, Euer Gnaden. Ich flehe Euch an!«
»Das Mädchen ist bereits verdammt«, entgegnete der Adlige. »Sie ist Jüdin. Und eine Hexe. Wer sollte sie denn verteidigen? Ein Mönch? Ein Mann der Kirche, der sie genauso als Hexe und Ungläubige betrachtet wie ihre Kläger? Das wäre nichts als eine Posse.«
»Gebt ihr diese Möglichkeit. Benennt einen Verteidiger.« Mercurio kniete sich vor ihm hin, respektvoll, aber nicht unterwürfig. »Ihr habt die Macht dazu.«
Giustiniani streckte instinktiv die Hand nach ihm aus, um seine dunklen Locken zu zerzausen. Doch dann hielt er mit traurigem Blick inne. »Diese Jüdin hat wirklich Glück«, sagte er dann. »Vielleicht ist sie ja wirklich eine Hexe«, fügte er mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Gott soll Euch segnen, Exzellenz«, sagte Mercurio und erhob sich.
»Nein, Gott verflucht mich, und das seit vielen Jahren«, erwiderte Giustiniani.
»Das glaube ich nicht, Euer Gnaden«, sagte Mercurio und sah ihn offen an.
»Geh jetzt«, befahl Giustiniani.
»Euer Gnaden, gibt es hier vielleicht einen Hinterausgang?«, fragte Mercurio, der beim Hineingehen gesehen hatte, dass der Kommandant, dem er die Nase gebrochen hatte, gerade seinen Dienst angetreten hatte.
Jacopo Giustiniani deutete ein Lächeln an. Dann winkte er einem seiner beiden Pagen. »Begleite ihn zur Tür, die auf die Anlegestelle geht«, befahl er ihm.
Kaum hatte er den Dogenpalast verlassen, hörte Mercurio wieder den Trommelwirbel erschallen.
»Am Sonntag, dem Tag des Herrn, wird auf höchsten Befehl unseres Patriarchen Antonio Contarini auf der Piazzetta von San Marco nahe der Anlegestelle am Dogenpalast vor der Obrigkeit unserer Erlauchtesten Republik Venedig die Heilige Römische Inquisition öffentlich eine Zusammenfassung der Anklagepunkte gegen Giuditta di Negroponte, Jüdin und Hexe, verlesen …«
Morgen schon, dachte Mercurio erschauernd, und vor Angst krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Nachdem er nach Mestre zurückgekehrt war, lief er gleich zu Scarabello, den er schlafend vorfand. Die Wunde auf seiner Lippe hatte sich inzwischen so ausgedehnt, dass sie seine Zähne entblößte. Sein schütteres Haar hing glanzlos herab, und auf seinem Kopf waren neue Schwären aufgetaucht. Die papierne Haut spannte sich über dem Schädel, selbst die Finger wirkten ausgemergelt. Mercurio kam es vor, als hätte er einen Leichnam vor sich.
Da schlug Scarabello plötzlich die Augen auf. Er starrte Mercurio zunächst trüb an, als würde er ihn gar nicht erkennen. Doch dann klärte sich sein Blick, und er lächelte ihm zu. »Die Wachen sind zurückgekehrt. Sie suchen nach dir. Dieser Kommandant gibt nicht auf …« Er rang nach Luft. »Du solltest ein paar Tage woanders unterschlüpfen … Wenn du willst, finde ich ein Versteck für dich …«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich kann für mich selbst sorgen.«
Scarabello lächelte. »Angeber«, sagte er.
Mercurio lächelte zurück. »Du tust schon genug.«
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Scarabello ihn dann. »Er ist wütend geworden, weil ich nicht selbst gekommen bin,
Weitere Kostenlose Bücher