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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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den Ankläger vorgestellt und nichts von einem Verteidiger gesagt.
    Der Heilige setzte sich wieder hin, und nun erhob sich einer der drei Geistlichen, die mit auf der Bühne saßen. Auch ihm lief der Schweiß über das Gesicht. »Im Namen Seiner Heiligkeit Leos des Zehnten und unseres geliebten Patriarchen Antonio Contarini und gemäß dem Verfahren der Heiligen Mutter Kirche, wer etwas zu sagen hat … der spreche jetzt!«
    Über die Piazzetta senkte sich dichtes Schweigen. Alle wussten, dass niemand etwas sagen würde.
    »Ich bitte um das Wort«, sagte da jedoch eine Stimme.
    Die hohen Herrschaften auf der Tribüne, die Soldaten, das versammelte Volk von Venedig, alle wandten sich um.
    Da bahnte sich Jacopo Giustiniani, trotz der Hitze in eines seiner prunkvollsten Gewänder gekleidet und reich verziert mit dem Familienschmuck, beschützt von vier Knappen seiner persönlichen Eskorte und gefolgt von seinen beiden blonden Pagen, seinen Weg durch die Menge und kam zu Füßen der Tribüne zu stehen.
    Der Patriarch war wie vom Donner gerührt. Etwas Ähnliches war noch niemals vorgekommen. »Ich übergebe Euch das Wort, Edler Giustiniani«, erklärte er ein wenig zögernd. »Kommt herauf.«
    Mercurio wurde aufmerksam. Er packte Isacco am Arm und drückte ihn.
    Isacco wandte sich zu ihm um. »Was ist los? Was ist auf einmal in dich gefahren?«
    Mercurio ließ Giustiniani nicht aus den Augen.
    »Wer ist das?«, fragte Isacco.
    »Seid still, Doktor«, fuhr ihn Mercurio an.
    »Und du lass meinen Arm los, du tust mir weh!«
    In der Zwischenzeit war Giustiniani flink die Stufen zu der Ebene emporgestiegen, auf der sich der Heilige und die drei Geistlichen befanden.
    Mercurios Blick ging zurück zu Giuditta.
    »Sprecht!«, forderte der Patriarch Giustiniani auf.
    »Unsere geliebte Republik erkennt die Autorität der Römischen Kirche von Seiner Heiligkeit Papst Leo dem Zehnten ebenso an wie ihr Verfahren«, begann Giustiniani an den Patriarchen gewandt, dann neigte er sich der Menge zu. »Und ihr Venezianer wisst genau, wer der Papst ist, und bringt ihm Respekt entgegen …«, sagte er und ließ den Satz unbeendet.
    Es erhob sich ein leises Murmeln, in dem Missbilligung mitschwang, denn die Venezianer fürchteten stets, die Macht des Papstes und Roms könnte ihre Geschäfte und Handelsbeziehungen beeinträchtigen. Seit jeher wussten sowohl die Führung Venedigs als auch das Volk, dass sie sich ihre Unabhängigkeit von der Kirche erhalten mussten.
    Und Jacopo Giustiniani wusste das besser als jeder andere. Deshalb hatte er sich entschlossen, dieses altangestammte und tiefsitzende Misstrauen gegenüber der römischen Kirche nun für seine Zwecke zu nutzen. »Doch zugleich, obwohl ihr den Papst liebt und achtet«, nahm er seine Überlegungen wieder auf, »liebt und achtet ihr über alle Maßen auch Venedig und seine Gesetze, liebt und achtet ihr das Rechtssystem der Löwenrepublik Venedig …«
    In der Menge rumorte es.
    Und der Patriarch musste feststellen, dass Giustiniani wieder getrennt hatte, was ihm zu vereinen gelungen war. Jetzt drohte dieser Prozess eine Machtdemonstration der Kirche zum Schaden Venedigs zu werden. »Kommt zur Sache, Edler Giustiniani«, sagte er und versuchte, seine Gereiztheit zu verbergen.
    »Patriarch«, sagte Giustiniani daraufhin, »und ihr, Volk von Venedig …« Auch diesen Satz ließ er unbeendet.
    »So redet doch!«, rief der Patriarch aus. Ein Messknabe wollte ihm mit einem gestickten Taschentuch den Schweiß von der Stirn tupfen, doch der Patriarch schob ihn verärgert weg.
    »Kann Venedig«, sagte Giustiniani dann an die Menge gewandt, »kann Venedig bei allem Respekt für die Heilige Römische Kirche zulassen, dass ein Prozess in unserer Lagunenstadt mit einem Inquisitor, aber ohne einen Verteidiger geführt wird?« Er sah wieder auf die Menge und breitete die Arme aus. »Kann, ja darf Venedig seine eigenen Regeln brechen, sich … wenn Ihr erlaubt … einem Ritual unterwerfen, das gegen seine gesunden Prinzipien verstoßen würde?«
    Die Menge murmelte und erregte sich. Die Idee, man könnte einen Verteidiger brauchen, war niemandem in den Sinn gekommen, und ganz bestimmt hielt dies auch keiner für notwendig, da alle schon voller Vorfreude darauf warteten, das Fleisch der jüdischen Hexe auf dem Scheiterhaufen rösten zu sehen. Doch nun war das Ganze von einem Hexenprozess zu einer Machtprobe zwischen dem Papst in Rom und der auf ihrer Unabhängigkeit bestehenden Republik Venedig

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