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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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den Steg, band das andere Ende des Taus an einem ihrer Knöchel fest und stieß sie ins Wasser.
    Als er gehen wollte, bemerkte er im Mondlicht eine rote Blutspur auf den Brettern des Steges. Eigentlich hätte er auch die beseitigen müssen, doch er wusste nicht, wie.
    Dann kehrte er zu seinem Posten nahe der Werft zurück und lauschte wieder in die Dunkelheit.
    Und diesmal vernahm er ein gedämpftes Wimmern.
    Shimon folgte dem Geräusch und entdeckte wenige Schritte weiter hinten einen Holzstapel mit einem Lumpenbündel darauf. Eine fette Ratte knabberte daran. Und in dem Bündel bewegte sich etwas.
    Shimon schlug mit der flachen Hand nach der Ratte, und das Tier flüchtete quiekend. Dann öffnete er das Bündel und entdeckte darin eingewickelt einen Säugling, hässlich und unterernährt und mit so verschrumpelter, glanzloser Haut, dass er wie ein auf Zwergengröße geschrumpfter alter Mann aussah.
    Shimon bemerkte, dass die Ratte zurückgekehrt war. Sie stand aufrecht auf den Hinterpfoten und streckte die Nase witternd in die Luft, während ihr nackter Schwanz wild hin und her zuckte. Shimon wollte sie mit dem Fuß forttreten, doch das Tier wich geschickt aus, ehe es verschwand.
    Inzwischen hatte das Neugeborene wieder begonnen zu greinen. Shimon begriff, warum die Mutter es in Lumpen gewickelt hatte. So war es nicht nur besser vor den Ratten geschützt, man konnte auch sein Weinen nicht hören, während sie versuchte, jemanden auszurauben.
    Shimon legte dem Kind die Lumpen wieder über das Gesicht, dann sah er zu dem Steg hinüber. Es wäre gnädiger, es wie die Mutter auf dem Grund der Lagune zu versenken, als es den Ratten zum Fraß zu überlassen, überlegte er. Doch dann nahm er es, einer plötzlichen Eingebung folgend, auf und setzte sich in Bewegung. Er ging den Rio di Santa Giustina bis zum Rio della Pietà entlang, und als er das Waisenhaus erreicht hatte, legte er das Neugeborene dort in der Drehlade ab.
    Dich hat der Zufall gerettet, dachte er, denn es war schließlich Zufall gewesen, dass er dort zuvor das Waisenhaus entdeckt hatte.
    Er zog an der Klingelschnur neben der Lade und lief schnell davon.
    Wieder bei der Werft angelangt, spähte er erneut in die Hütte des alten Mannes. Mercurio war noch dort. Und wieder knurrte der Hund witternd. Shimon dachte, dass er noch nie ein Tier getötet hatte. Und er sagte sich, dass es immer ein erstes Mal gab, während er sich hinter dem Schiff in sein Versteck zurückzog.
    Er zückte sein Messer und schnitzte etwas in die Planken des Schiffs, um sich die Wartezeit zu vertreiben.
    DIE STUNDE DES GERICHTS IST GEKOMMEN, stand dort zu lesen, als er fertig war.
    Auf dem Steg entdeckte er wieder die Ratte, die dem Blutgeruch gefolgt war und jetzt das Holz annagte.
    Shimon lächelte selig wie ein Kind.
    Das Leben ist schön, dachte er.

86
    F ührt die Zeugin vor das Heilige Inquisitionsgericht«, befahl der Patriarch.
    Fra’ Amadeo starrte in die Menge und unterstrich die Ankündigung des Patriarchen, indem er mit ausgestrecktem Arm nach links wies, als würde er die Hauptattraktion eines Jahrmarktspektakels präsentieren.
    Die Menge im Kapitelsaal des Konvents der Heiligen Kosmas und Damian verstummte und drehte sich um.
    Wie alle anderen wandte sich Mercurio der Tür zu, durch die die Zeugin eintreten sollte. Er war aufs Höchste angespannt. Bis jetzt waren die Zeugenaussagen eher vage gewesen oder ließen eine allzu blühende Fantasie erkennen. Mehrfach war es offensichtlich gewesen, dass die Zeugen, beinahe ausschließlich Frauen, genauestens unterwiesen worden waren, was sie zu sagen hatten. Die Leute im Saal wussten nicht, was sie glauben sollten, und waren eher unentschlossen in ihrem Urteil, doch trotzdem wollten sie die Hexe Giuditta brennen sehen. Dennoch hatte Mercurio bisher all seine Hoffnung, so gering sie auch war, auf diese Unentschlossenheit gesetzt. Diese neue Zeugin jedoch war seit dem ersten Prozesstag mit so viel Aufsehen angekündigt worden, dass er nun befürchtete, ihre Aussage könnte wesentlich mehr Gewicht haben.
    Octavia, die wieder in der Menge saß, sah sich suchend um. Isacco hatte sich an diesem Morgen noch nicht blicken lassen, und jetzt war es schon mitten am Vormittag. Doch dann spürte sie, wie eine Hand ihren Arm fasste, und sah, dass Isacco neben ihr aufgetaucht war.
    »Wo wart Ihr denn?«, fragte sie ihn und wunderte sich, dass er sein Kinnbärtchen abrasiert hatte, ein farbenprächtiges Gewand trug und keinen gelben Hut mehr auf

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