Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
seines Messers fest umklammert gehalten. Die Frau, Anna hieß sie, hatte eine sanfte Stimme, ehrliche Augen und behandelte ihn freundlich. So hatte seine Anspannung sich langsam gelöst, und Shimon hatte ihr sein Taufzeugnis gezeigt. Die Frau konnte tatsächlich lesen, hatte sich das Dokument angesehen und ihn respektvoll mit »Signor Rubirosa« angesprochen, obwohl sie ihn anfänglich für so bedürftig gehalten hatte, dass sie ihm ein warmes Essen angeboten hatte. Shimon hatte deshalb mit dem Finger auf den Vornamen gezeigt, und daraufhin hatte sie ihn lächelnd »Signor Alessandro« genannt.
Das alles hatte Shimon seltsam bewegt. Bei dieser Frau fühlte er sich geborgen. Vollkommen anders als bei Ester, denn Anna erregte nicht seine Begierde. Doch sie hatte etwas an sich, das sein kaltes Herz erwärmte.
»Ich lebe hier mit meinem Sohn«, hatte die Frau dann noch gesagt.
Shimon hatte sie angesehen und gedacht: Und ich bin hier, um dir deinen »Sohn« wegzunehmen. Dann war er aufgestanden und gegangen, weil er es nicht ausgehalten hätte, länger dort zu bleiben.
Shimon ruderte weiter, auch wenn er seine Arme vor Anstrengung beinahe nicht mehr spürte. Als er Rialto erreichte, konnte er Mercurios Boot nirgendwo entdecken. Er hatte ihn wieder einmal verloren, dachte er, und Zorn überwältigte ihn. Er ließ die Ruder fallen. Während er langsam dahintrieb, mit von Schweiß durchtränkten Kleidern und ausgedörrter Kehle, hielt er beständig Ausschau in der Hoffnung, das Boot doch noch an einer der Anlegestellen zu entdecken.
Je länger er erfolglos dahinglitt, desto mehr mischte sich Mutlosigkeit in seine Wut.
Er war nur noch einen kleinen Schritt von seiner Rache entfernt gewesen. Und jetzt musste er vielleicht noch einmal zu dem Haus am Bewässerungskanal zurückkehren und darauf warten, dass Mercurio sich wieder dort blicken ließ. Doch das war nun riskant. Die Frau würde bestimmt Verdacht schöpfen. Und vor allem hatte Shimon gestern bemerkt, dass der Junge aus der Bande sich auch dort herumtrieb. Dieser Zolfo durfte ihn auf keinen Fall entdecken, sonst würde er Mercurio warnen, und dieser wäre für immer verschwunden.
Wütend schlug er so heftig mit der Faust auf die Ruderbank, auf der er saß, dass der Schmerz bis in seinen Unterarm zu spüren war.
Shimon griff wieder zu den Riemen. Die Hand, mit der er zugeschlagen hatte, schmerzte immer noch. Langsam schob er sich den Canal Grande hinauf, auch wenn er kaum noch Hoffnung hegte, und sah sich suchend zu beiden Seiten des Kanals um. Gemächlich fuhr er an der Mole des Dogenpalastes beim Markusplatz vorbei, wo sich die Lagune so sehr weitete, dass sie wie offenes Meer wirkte, obwohl es nur eine große Mündung war. Er wollte schon aufgeben, als er es sich anders überlegte und sich entschloss, doch noch ein wenig das linke Ufer auf der Seite des Markusplatzes abzusuchen. Also fuhr er dort entlang und starrte auf die Stände, von denen der köstliche Duft der castradine, des gepökelten und anschließend geräucherten Hammelfleischs, aufstieg.
Als er jegliche Hoffnung verloren hatte, sah er, wie ein Boot mit aberwitziger Geschwindigkeit aus einem Seitenkanal hervorschoss. Er erkannte es sofort wieder. Es war das Boot, das Mercurio in Mestre bestiegen hatte, und die beiden Ruderer waren jene hünenhaften Kerle, die Shimon dort schon gesehen hatte.
Doch Mercurio war nicht mehr an Bord.
Shimon ruderte ans Ufer heran und bog in den Kanal ein, aus dem das Boot gerade gekommen war. Vielleicht bemühte er sich umsonst, aber einen Versuch war es dennoch wert, und die neu erwachte Hoffnung, Mercurio wiederzufinden, ließ ihn augenblicklich den Hunger vergessen, den der Geruch nach Hammelfleisch gerade noch in ihm wachgerufen hatte.
Er fuhr unter dem Ponte della Pietà hindurch und in den gleichnamigen Kanal.
Aufmerksam suchend ruderte er langsam weiter. Jetzt hatte er keinen Anhaltspunkt mehr, er musste Mercurio so finden. Ihm war klar, wie aussichtslos das war, denn er würde ihn höchstens sehen, wenn der Junge sich noch auf der Fondamenta herumtrieb. Doch wieder sagte er sich, dass es einen Versuch wert war.
Der Rio della Pietà war einigermaßen breit und wand sich an einer Stelle wie eine ruhende Schlange, was sehr ungewöhnlich war für Venedig, wo die Kanäle sonst ohne größere Kurven verliefen. Auf dem rechten Ufer sah Shimon eine Wiese, auf der eine Herde Ziegen weidete. Auf der anderen Seite des Kanals entdeckte Shimon einige Knaben und einen
Weitere Kostenlose Bücher