Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
feindselig.
Doch Shimon fiel auf, dass sein Blick nicht mehr so selbstsicher wirkte. Er lächelte.
»Also, was willst du?«, fragte der Mann wieder.
Shimon hatte keine Möglichkeit, ihm zu antworten, aber er hätte es auch gar nicht gewollt. Nein, er starrte ihn nur weiter an, furchtlos.
Schließlich drehte der Mann sich um, vielleicht hatte ihn Shimons Blick verunsichert. Er kehrte zu dem Wagen zurück, ließ die Peitsche knallen und schrie die Kinder wütend an: »Ich erwarte euch bei den Armengräbern. Beeilt euch!« Der Araber brach aus und setzte sich rasch in Bewegung.
Shimon empfand einen großen inneren Frieden.
Ich habe dich gefunden, dachte er.
Er wartete, bis die Kinder losgingen, und folgte ihnen dann in sicherer Entfernung.
Als er die Armengräber erreichte, sog er die Luft in sich ein. So mussten jetzt wohl der Pfarrer und seine Haushälterin riechen. Der Gedanke erheiterte ihn. Er setzte sich auf eine kleine Anhöhe, von der aus er alles übersehen konnte, ohne selbst entdeckt zu werden. Dort in der Ferne gab es diesen Mann, vor dem alle Kinder Angst hatten, selbst die größeren. Aus der Entfernung wirkte das ganze Gelände wie eine Werkstatt, in der jeder höchst effizient seiner Aufgabe nachging. Der Tod war eine Arbeit wie jede andere.
Als es dunkel war, stand Shimon auf, massierte sich die verkrampften Pobacken und ging hinunter zu den Armengräbern. Vorher suchte er sich noch einen kräftigen, kurzen Stock, den er einige Male auf seine Handfläche aufschlug, um sich mit ihm vertraut zu machen. Er betrat die Hütte des Mannes, der gerade beim Essen saß. Bis er vom Tisch aufgestanden war und seinen Türkendolch gegriffen hatte, hatte Shimon ihn schon mit seinem Knüppel an der Schläfe getroffen. Ein kräftiger, eiskalt ausgeführter Schlag. Der Mann fiel bewusstlos zu Boden. Shimon löste die Schärpe, die er um die Taille trug, und fesselte ihm damit die Handgelenke an den Mittelbalken der Hütte. Dann setzte er sich auf den Stuhl des Mannes und schlürfte seine Suppe, schlang sein Huhn herunter und trank von seinem Wein.
Als er fertig war, sah er, dass der Mann wieder zu Bewusstsein gekommen war und ihn schweigend ansah. Shimon suchte nach einem Stück Papier und einer Feder. Er fand alles, was er brauchte, in der Schublade einer verzogenen Kommode, die in einer Ecke der Hütte stand. Ein Buch. Er blätterte darin. Es war ein Totenregister, zumindest glaubte er das. Die Feder war halb abgebrochen und die Tinte minderwertig, oder jemand hatte aus Sparsamkeitsgründen zu viel Wasser hinzugefügt.
WIE HEISST DU?, schrieb Shimon.
»Scavamorto.«
WO IST DER JUNGE, DER IN DEM ABWASSERKANAL GELEBT HAT?
»Wer?«
Shimon schlug Scavamorto mit dem Stock auf den Mund.
Der andere spuckte Blut.
Shimon zeigte ihm noch einmal das Blatt mit der letzten Frage.
Scavamorto sah ihm direkt ins Gesicht, er ließ keine Furcht erkennen. »Der ist weg.«
WIE HEISST ER?
»Mercurio.«
WOHIN IST ER GEGANGEN?
»Warum glaubst du, dass ich das weiß?«
WEIL ICH FÜR DICH HOFFE, DASS ES SO IST. SONST WIRST DU SEHR LEIDEN MÜSSEN.
Scavamorto lächelte.
Shimon erwiderte sein Lächeln. Im Grunde seines Herzens mochte er den Mann. Er war wie er. HAST DU KEINE ANGST VOR DEM TOD?, schrieb er.
»Der Tod ist mein bester Freund. Er sichert meinen Lebensunterhalt.«
Shimon nickte. Ja, dieser Mann verdiente seinen Respekt. Sie glichen einander. Dann stellte er ihm wieder seine drängendste Frage: WOHIN IST ER GEGANGEN?
»Nach Mailand oder Venedig«, antwortete Scavamorto. »Und selbst wenn du mir jetzt mit den Nägeln die Augen auskratzt, ich weiß nicht, ob er nach Mailand oder Venedig gegangen ist. Oder ob er es sich unterwegs noch einmal ganz anders überlegt hat.«
Shimon starrte ihn an. Der Mann sagte die Wahrheit. Doch vielleicht konnte er noch etwas mehr aus ihm herausholen. Etwas, das er in den Augen dieses Mannes gelesen hatte. DU MAGST MERCURIO?
Scavamorto gab ihm keine Antwort. Doch der Ausdruck in seinen Augen änderte sich.
Shimon wusste, dass dies Ja bedeutete. ER HÖRT AUF DICH. Das war keine Frage.
Scavamorto sah ihn weiterhin schweigend an.
Shimon schrieb seine Frage auf: MAILAND ODER VENEDIG, WAS DENKST DU?
Zum ersten Mal wich Scavamorto seinem Blick aus.
Shimon dachte, er würde ihn nun anlügen.
»Venedig.«
Shimon nickte. Dann traf er ihn mit dem Stock an der Schläfe. Als Scavamorto bewusstlos dalag, entkleidete er ihn und zog seine Sachen an. Obwohl er sich geschworen hatte, es
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