Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Anna del Mercato heute kurz nach dem Wachwerden gefragt hat? Ob ich ein Ziel habe.«
»Was soll das heißen?«
»Sie hat gesagt, jeder Mensch muss immer ein Ziel vor Augen haben, sonst ist es so, als würde er nicht richtig leben.«
»Und welches Ziel hat sie?«, fragte Benedetta spöttisch.
»Ihr Ziel war es, für ihren Ehemann zu sorgen.« Mercurios Stimme klang jetzt unsicher. »Und nun ist er tot. Sie hat mir erzählt, irgendwie wäre sie dadurch auch ein wenig gestorben.«
»Und was geht uns das an?«
»Ich weiß nicht …« Mercurio trat gegen einen Stein. »Ich habe nur gedacht, dass ich noch nie ein Ziel hatte. Glaube ich wenigstens.«
»Für mich ist das Altweibergeschwätz.«
»Mhm …«
Sie liefen schweigend weiter. Mercurio trat gegen alle Steine auf dem Weg, während Benedetta fröstelnd mit eingezogenen Schultern neben ihm her trottete.
»Und was haben wir für ein Ziel?«, fragte sie schließlich.
Mercurio drehte sich zu ihr um, aber er sah nicht sie, sondern Giuditta vor sich. »Ein Boot nach Venedig zu finden. Komm, lass uns zum Marktplatz gehen.«
Der Marktplatz, an dem man auch alle sonstigen Geschäfte abschloss, belebte sich allmählich. Mercurio fragte einige Bootsführer, doch die sagten ihm, in Kriegszeiten dürften Fremde nicht nach Venedig übersetzen. Während sie über den Platz schlenderten, entdeckte Mercurio einen Laden mit einem himmelblauen Vorhang. Die wenigen Kunden, die hineingingen, wirkten bedrückt. Neugierig geworden trat er näher und stellte fest, dass es sich um eine Pfandleihe handelte.
»Wie heißt der Geldverleiher?«, fragte er einen Passanten.
»Isaia Saraval«, lautete die Antwort.
Mercurio spähte ins Innere des Ladens und sah einen kräftigen, großen Mann, der ihn misstrauisch anstarrte. Er grüßte, doch der Mann erwiderte seinen Gruß nicht, sondern behielt ihn einfach nur weiter im Auge. Mercurio begriff, dass er so etwas wie eine Leibwache war. Dann kam ein Mann um die fünfzig mit einem langen schmalen Gesicht hinter einem Vorhang aus Damastseide hervor. Er wirkte freundlich und trug an einer Halskette eine Vergrößerungslinse. Vermutlich dieselbe, mit der der Geldverleiher die Kette von Anna del Mercato geschätzt hatte, dachte Mercurio.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Benedetta.
Mercurio entdeckte gegenüber der Pfandleihe ein Wirtshaus und ging darauf zu. Als ihr bestelltes Essen kam, schaufelte Benedetta trotz der frühen Stunde alles in sich hinein, während Mercurio seinen gekochten Schweinekopf mit Blumenkohl kaum anrührte. Er sah immer wieder zur Pfandleihe hinüber und beobachtete schließlich, wie ein junger Mann dort eintrat, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte. »Warte hier«, sagte Mercurio zu Benedetta, dann verließ er das Wirtshaus und blieb vor der Pfandleihe stehen.
Kurz darauf setzte der Riesenkerl, der über die Wertsachen des Pfandleihers wachte, den jungen Mann vor die Tür. »Wenn du noch einmal herkommst, klagt dich mein Herr bei der Obrigkeit an.«
»Verdammter Scheißjude«, schimpfte der junge Mann und entfernte sich.
Mercurio trat an ihn heran. »Guten Tag, mein Freund.«
Der junge Mann sah ihn misstrauisch an.
»Du hast versucht, etwas zu versetzen, das nicht dir gehört, stimmt’s?«
»Wer bist du? Hau ab!«
»Ich bin einer von deiner Sorte, mein Freund«, beruhigte ihn Mercurio. »Und ich suche ein Boot, das mich nach Venedig bringt. Ich kann bezahlen.«
Plötzlich war der junge Mann interessiert. »Das hättest du doch gleich sagen können, Freund«, lenkte er ein. »Wie viel kannst du zahlen?«
»Wir sind zu zweit«, sagte Mercurio.
»Ein Silberstück pro Nase.«
»Ein Silberstück für beide.«
»Einverstanden«, sagte der junge Mann, der ein wenig einer Ratte ähnelte. Er streckte Mercurio die Hand entgegen. »Gib mir das Geld, wir sehen uns dann morgen früh am Canal Salso.«
»Hältst du mich für blöd?«, erwiderte Mercurio grinsend.
»Ich muss erst ein Boot finden …«
»Wenn ich an Bord bin, bekommst du dein Geld«, sagte Mercurio. »Was ist nun, willst du das Geschäft machen oder nicht?«
Der junge Mann schüttelte ergeben den Kopf. »Na gut. Morgen früh bei Tagesanbruch am Canal Salso.« Dann fügte er hinzu: »Wo schläfst du? Wenn du willst, besorge ich dir für einen halben Soldo ein sicheres Zimmer für die Nacht.«
Mercurio konnte sich gut vorstellen, dass der junge Mann und seine Bande ihnen noch in der gleichen Nacht die Kehle durchschneiden würden. »Bei
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