Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
ihm fehlten die Worte, und er brachte nicht mehr als ein »Ja …« heraus.
Beide schwiegen und starrten in die Flammen.
Mercurio fragte Anna ganz leise: »Als ihr geheiratet habt … Als du und dein Mann danach … Habt ihr euch … habt ihr euch bei der Hand genommen?«
Annas Augen verloren sich wieder in der Vergangenheit. Dann lachte sie laut auf. »Na ja … das nicht gerade.« Sie lachte noch einmal und steckte Mercurio damit an. »Aber so ähnlich, mein Junge. Verstehst du?«
»Na ja …«
Mit einem liebevollen Lächeln zerzauste Anna del Mercato seine Haare. »Natürlich nicht. Ich bin wirklich dumm. Du bist ja noch so jung … Also, ich will sagen, dass unsere Hände … seine und auch meine … ja, irgendwie schon im Spiel waren.«
»Ach so«, sagte Mercurio und tat so, als hätte er sie verstanden.
Anna del Mercato kicherte verlegen. »Oh, mein Junge … was lässt du mich da sagen?« Sie schlug die Augen nieder. Wieder verlor sie sich in Erinnerungen und streichelte zärtlich die Jacke. »Du wirst sehen, die hält dich schön warm.«
»Ja …«
»Das sind die letzten seiner Sachen, die ich noch hatte«, erklärte Anna. »Nun besitze ich nichts mehr von ihm.« Sie sah wieder mit verklärtem Blick in die Flammen. »Er hat mir eine Kette geschenkt«, flüsterte sie, als spräche sie zu sich. »Sie war schön. Eine gedrehte Kette aus einfachem Gold mit einem Anhänger, einem Kreuz mit einem grünen Stein in der Mitte.« Anna seufzte, dann stand sie plötzlich auf. »Ich gehe jetzt zu Bett. Und versuch auch du zu schlafen, mein Junge.« Doch sie rührte sich nicht von der Stelle, sondern blieb in der großen Kaminöffnung stehen und starrte in die Flammen. »Weißt du, er ist vor zwei Jahren gestorben«, sagte sie schließlich. »Auf dem Markt, ein Wagen hat ihn zerquetscht. Der Wagen eines Fremden, der stecken geblieben war. Mein Mann hat ihm geholfen. Und dann hat ein Rad nachgegeben, der Wagen ist umgekippt und hat seinen Brustkorb und sein großes, gütiges Herz zerdrückt.«
Sie wirkt so würdevoll, dachte Mercurio. Er drehte sich zu Zolfo um, der sich weiter aufgeregt mit dem Prediger unterhielt und dessen Gesichtszüge so angespannt waren, dass es aussah, als fletschte er die Zähne. Der Junge hatte ebenfalls einen wichtigen Menschen in seinem Leben verloren. Aber er reagierte mit Wut auf den Schmerz. Mercurios Blick ging zu Anna. Sie nicht, dachte er, und sie kam ihm nicht weniger stark vor.
»Ich habe das wenige Geld, das ich hatte, für einen anständigen Sarg ausgegeben. Und für ein Begräbnis«, erklärte Anna del Mercato. »Danach habe ich versucht, wieder die Arbeit aufzunehmen, der ich nachging, bevor ich meinen Mann kennenlernte. Weißt du, ich erledigte den Einkauf von Lebensmitteln für einige Familien Venedigs, die zwar bedeutend, aber vorübergehend knapp bei Kasse waren. Da ich hier in Mestre lebe, konnte ich ihnen gute Preise garantieren. Hier sind die Waren um Etliches günstiger. Aber keiner von denen wollte später noch etwas von mir wissen. In der Zwischenzeit waren sie wieder zu Wohlstand gekommen, und da war ich ihnen schlichtweg peinlich. Ich erinnerte sie an die schlechten Zeiten, und vielleicht fürchteten sie, ich würde ihnen Unglück bringen.« Anna seufzte auf. »So bringe ich mich mühsam durch, indem ich Betten an Tagelöhner vermiete, aber im Winter arbeitet niemand hier auf dem Land, und dieses Jahr ist durch die Kälte das ganze Gemüse in meinem Garten erfroren.« Sie berührte ihren Hals knapp unterhalb der Kehle, als suchte sie etwas, das immer dort gewesen war. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe die schöne Kette verpfänden müssen, obwohl ich mir geschworen hatte, dass ich das nie tun würde. Isaia Saraval, der Geldverleiher an der Piazza Grande, hat mir zwanzig Silberstücke dafür gegeben.« Anna senkte den Blick, als schämte sie sich immer noch für ihren Entschluss. »Ich werde nie genug Geld haben, um sie auszulösen.«
Es ist eine Schande, dass diese Frau keinen Sohn bekommen hatte, dachte Mercurio. Sie hätte ihn bestimmt nicht in der Drehlade eines verdammten Waisenhauses abgegeben. Meine Mutter war eine Gemüsehändlerin, die jeden Morgen zum Markt ging …, dachte er. Hätte diese Frau ihn geboren, wäre er kein Betrüger geworden und hätte auch den Kaufmann nicht getötet. Aber es war eben anders gekommen. Und es war müßig, über ein »was wäre wenn« nachzudenken.
»Das tut mir leid«, sagte er zurückhaltend in dem
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