Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
bewegt, denn sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen –, aber dann hatte er den Jungen angefahren: »Fünfzehn Jahre lang war sie meine Tochter, aber deine Mutter war sie bloß die wenigen Augenblicke, die du gebraucht hast, um sie zu töten. Wage es ja nicht, sie in meiner Gegenwart deine Mutter zu nennen.«
Jene Worte hatten den Jungen tief verletzt. Unter der Last der Demütigung hatte er den Kopf noch weiter gesenkt, aber trotzdem die Kraft gefunden zu sagen: »Es tut mir leid, was ich deiner Tochter angetan habe.«
Die Großmutter war in Tränen ausgebrochen. Hätte ihr Mann ihr nicht mit einem finsteren Blick Einhalt geboten, hätte sie ihr Enkelkind, das dieselben blauen, aufgeweckten Augen wie ihre Tochter hatte, am liebsten in die Arme geschlossen. Er dagegen hatte sich noch mehr verhärtet und dem Jungen mit dem Finger gedroht: »Verschwinde, sündiges Geschöpf!« Und aus einem unerfindlichem Grund, denn eigentlich war er nicht fanatisch in Glaubensdingen, fiel ihm nichts Besseres ein, um all den Hass loszuwerden, den er für das Kind empfand, als hinzuzufügen: »Auf dieser Welt gibt es nur noch eines, das schlimmer ist als du, und das sind die Juden.«
Bei seiner Rückkehr ins Kloster wurde Amadeo bestraft. Aber von diesem Tag an begann er, über die Juden Erkundigungen einzuholen, und erfuhr dabei vor allem, dass sie die Mörder des Herrn Jesus Christus seien, die ihn ans Kreuz geschlagen und von da an die schreckliche Sünde des Kalvarienberges zu tragen hatten. Und so erstand in seinem schlichten Kinderverstand ein klar definiertes Bild: Es war nur logisch, dass die Juden noch schlimmer waren als er. Schließlich hatten sie Gottes Sohn getötet, er hingegen bloß ein einfaches Mädchen. Von da an hatte er zum ersten Mal in seinem kurzen Leben Erleichterung empfunden. Er war nicht der schlimmste Abschaum der Menschheit. Und zum ersten Mal hatte er jemanden, den er von ganzem Herzen verachten konnte, ganz so, wie die anderen ihn verachteten.
Die Juden konnten seine Befreiung sein, und so wurden sie bald zu seinem Lebenszweck. Durch den Hass, den er über sie ausschütten konnte, fühlte er sich besser und zum ersten Mal auf der Seite des Rechts. Er redete sich ein, dass sein Hass auf die Juden ein Akt der Liebe zu Gott sei, und gab sich ihm mit Leib und Seele hin. Mit der Zeit vergaß Amadeo, der nun ebenfalls Predigermönch geworden war, seinen Großvater und dessen dahingesagte Worte. Jahre später erinnerte er sich überhaupt nicht mehr daran, wie sein Hass auf die Juden eigentlich entstanden war. Er nahm ihn als gegeben und vor allem als gerecht hin.
Und so fand er denn auch die richtigen Worte, um Zolfos Hass zu schüren.
Bruder Amadeo da Cortona wusste Güte ebenso zu erkennen wie Schwäche. Das hatte ihn zum einen bewogen, Quartier bei Anna del Mercato zu beziehen, zum anderen war ihm klar, dass er Zolfo zum Aushängeschild seines Kampfes machen würde.
»Wir werden deine Geschichte erzählen, um der Welt die Wege zu zeigen, auf denen Satan Arm in Arm mit seinen jüdischen Knechten einhergeht«, sagte er wieder einmal zu dem Jungen, während sie auf das Ufer des Canal Salso zuliefen. »Aber es wird nötig sein … sie hier und dort ein wenig zu bereinigen. Zum Beispiel sollte man nicht erwähnen, dass ihr den Kaufmann beraubt habt. So wird die Sünde des ganzen Judäervolkes viel anschaulicher, verstehst du?«
Zolfo nickte, er war bereit, jeden Meineid zu schwören, wenn es dazu diente, sich an den Juden zu rächen, die am Tod unseres Herrn Jesus Christus und mehr noch an dem von Ercole schuldig waren.
»Jetzt müssen wir nach Venedig übersetzen«, fuhr Bruder Amadeo fort. »Venedig ist die Stadt der Juden. Dort halten sie ihren Hexensabbat ab, und dort treiben sie ihren sündhaften Handel. Dort ist unser reinigendes Wirken mehr denn je gefordert.«
An der Mole näherte sich der Mönch einem großen Boot, auf das man Fisch für den Markt von Rialto geladen hatte. »Guter Mann«, sprach Fra’ Amadeo einen der Fischer an, »wärt Ihr bereit, uns nach Venedig zu bringen?«
Der Fischer musterte ihn unentschlossen. Seine Augen glitten zu einem großen Weidenkorb im Heck, der mit einem vom Ausnehmen der Fische blutbeschmierten Tuch bedeckt war und schrecklich stank.
»Wir können bezahlen«, sagte Zolfo, der die Gedanken des Fischers erraten hatte.
»Wie viel?«, fragte dieser und musterte den Mönch.
»Wie viel verlangst du?«, fragte Zolfo zurück, der allem Anschein nach besser
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