Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
begeben, taub für das Weinen und Flehen seiner Frau. Alle Gäste waren ihm gefolgt, und jeder von ihnen, Männer und Frauen, wusste genau, wer der Vater des Kindes war. Als der Wirt beim Dominikanerkloster, dem Orden der Predigermönche, angekommen war, hatte er voller Wut so lange an das Tor gepocht und laut gerufen, bis er den Pförtnermönch geweckt hatte und dieser das Guckloch öffnete und hinaussah. Darauf hatte der Wirt ihm mit seiner lauten Stimme gedroht und gefordert, er möge sofort den Kräutermönch wecken. Verängstigt war der Pförtner ins Kloster geeilt, wo man schon erste Kerzen zur Morgenandacht entzündete, und hatte berichtet, dass eine aufgehetzte Menge nach dem Kräutermönch rief.
»Hier hast du deinen Bastard!« Dem wütenden Gastwirt quollen vor Zorn die Augen fast aus den Höhlen, als der Kräutermönch, dem die meisten seiner Mitbrüder gefolgt waren, sich erschrocken am Guckloch zeigte. »Er hat seine Mutter umgebracht, um auf die Welt zu kommen! Möge sein Vergehen zweifach auf dich zurückfallen, denn du hast ihn gezeugt! Mögest du bis in alle Ewigkeit im Höllenfeuer schmoren! Ich verfluche dich, du Hundsfott von einem Mönch! Und ich verfluche diesen Bastard mit dir!« Mit diesen Worten hatte er den leise wimmernden Säugling auf die Erde gelegt, wo er in der Eiseskälte zu erfrieren drohte. Dann hatte der Wirt dem Kloster den Rücken zugewandt, und nach der Rückkehr in seine Schenke war er schließlich weinend über den Tod seiner einzigen Tochter zusammengebrochen, die sich von einem Mönch hatte verführen lassen.
Der Kräutermönch hieß Reginaldo da Cortona.
Als die aufgebrachte Menschenmenge sich, von der Eiseskälte vertrieben, zerstreut hatte, war er nach draußen zu dem Säugling geeilt, hatte ihn hochgehoben und ihn unter den tadelnden Blicken seiner Mitbrüder ins Warme gebracht. Er hatte ihm Ziegenmilch zu trinken gegeben, und das Kind hatte überlebt. Damit stellte sich das Problem, was man mit ihm anfangen sollte. Am nächsten lag natürlich, es in die Obhut eines Waisenhauses zu geben, wie es üblich war. Aber Bruder Reginaldo da Cortona hatte gefragt, ob er den Jungen nicht bei sich behalten könnte, zur ständigen Erinnerung an die eigene Schwäche und Sünde. »Wie ein Kreuz«, hatte er gesagt, und dabei hatte er, wie so viele fanatische Diener Gottes, nur sich selbst im Kopf gehabt und nicht bedacht, dass er damit auch das Kind bestrafte.
So wuchs der Kleine, der Amadeo getauft wurde – sehr zur Erheiterung vieler Mitbrüder, die aus seinem Namen ein Wortspiel machten und ihn Ama-Deo-e-non-le-donne – »Liebe Gott und nicht die Frauen« – nannten, als das sündige Anhängsel seines Vaters auf, der ihn überallhin mitnahm. Die wenigen Leute in der Stadt, die die skandalöse Geschichte damals nicht mitbekommen hatten, hatten sie im Lauf der folgenden Jahre erfahren. Amadeo wurde stets von allen angestarrt, und wenn sein Vater zufällig einmal einen Fremden traf, beeilte er sich, ihm als Akt der Buße die ganze Angelegenheit von sich aus zu erzählen. Währenddessen schlug er sich stets anklagend vor die Brust und ließ selbst in Anwesenheit seines kleinen Sohns keine Einzelheit aus. Durch diese tiefe Bußfertigkeit hatte Bruder Reginaldo da Cortona im Verlauf weniger Jahre die Anerkennung der Bürger Bergamos zurückgewonnen. Die Qual, die er durch seine so offenkundige Buße dem kleinen Amadeo antat, hatte ihn von seiner Sünde reingewaschen. Der Junge indessen war immer das »Kreuz« geblieben, und man nannte ihn mittlerweile auch so. Er hatte nie eine Chance gehabt, etwas anderes zu werden.
Im Alter von zehn Jahren war Amadeo an einem Spätnachmittag aus dem Kloster geflohen. Er hatte ein genaues Ziel vor Augen: die Schenke, in der er geboren und in der seine Mutter gestorben war. In dem dunklen, heruntergekommenen Gastraum hatte er sofort den Wirt ausgemacht, der sein Großvater war, und dessen Frau, seine Großmutter. Schüchtern hatte er sich dem Mann genähert, während die wenigen Gäste, kaum dass sie ihn erkannten, verstummten und ihn anstarrten. Auch der Wirt wusste genau, wer der Junge war.
»Es tut mir leid, was ich meiner Mutter angetan habe«, hatte Amadeo mit dünner Stimme gesagt und sich niedergekniet, denn in all den Jahren hatte er von seinem Vater nur eins gelernt, nämlich dass man für seine Sünden büßen musste.
Der Wirt war kurz hin- und hergerissen, als könnte ihn die Worte rühren – ganz sicher war seine Frau davon tief
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