Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
Vom Netzwerk:
ist zehn Jahre älter als ich und genoss als Jugendlicher das unbeschwerte Leben als Diplomatensohn in vollen Zügen. Er besuchte eine Privatschule im amerikanischen Sektor, direkt auf dem Militärgelände, die unser Vater ihm bezahlte. Weil wir von einem Land ins nächste gezogen waren, wollte er, dass wir wenigstens immer das gleiche Schulsystem besuchen, Farid ein englisches, ich ein deutsches. Im Gegensatz zu mir hasste es Farid, wenn mein Vater ihn von der Schule abholte, es war ihm peinlich, wenn seine Mitschüler das sahen. Nur der Fahrer durfte ihn abholen, das fand er cool.
    Kurz vor Silvester kam mein Bruder Farid einmal mit Tüten voller Böller nach Hause, die er aus dem Westen mitgebracht hatte. Als es dunkel wurde, schlich er sich aus dem Haus und nahm mich ausnahmsweise mit. Er hatte etwas ausgeheckt und brauchte mich wohl als Komplizin. Farid wollte offensichtlich die Nachbarn ärgern und steckte die Kracher in die Mülltonnen, die zum Entleeren auf die Straße gestellt worden waren. Dann zündete er
die Raketen an und als sie explodierten, lachte er sich beim Weglaufen kaputt. Ich glaube, Farid war damals immer auf der Suche nach einem neuen Kick, weil ihm oft langweilig war, obwohl er alles hatte, auch Freunde aus anderen Botschafterfamilien, die in Pankow wohnten.
    »Wir konnten machen, was wir wollten, und uns alles erlauben«, erzählte er mir später einmal. So fingen sie in Discotheken oder Bars Streit mit Ostberliner Jungen an, nur weil sie wussten, dass ihnen nichts passieren konnte.
    »Wenn die Polizei kam, fragten die gar nicht, wer Schuld hatte, sondern nahmen sofort immer die anderen mit zur Wache, weil wir Immunität genossen.«
    Farid brachte sich so ziemlich alles aus dem Westen mit, sein Zimmer sah aus wie ein Süßwarengeschäft und die Wände waren genauso bunt und farbig behangen, vor allem mit Postern seines Idols Michael Jackson. Vorm Spiegel stylte er sich die Haare wie Jacko im Video von »Thriller«, sogar eine rote Lederjacke hatte er sich gekauft, und die Musik lief bei uns rauf und runter. Den »Moonwalk« beherrschte Farid wie kein anderer.
    Farid hatte auch einen deutschen Freund, Micha, der mit seiner Mutter allein lebte, weil sein Vater in den Westen geflohen war und seine Familie zurücklassen musste. Einmal schmuggelte Farid für Michas Mutter einen Brief nach drüben zu Michas Vater, wie er mir vor einigen Wochen erzählte.
    »Mucki war mir unglaublich dankbar, denn es war die einzige Möglichkeit für seine Mutter, mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen.«
    Zu seinem 16. Geburtstag schmiss Farid eine große Party in Empfangshalle, Speisesaal und Wohnzimmer. Wir Geschwister durften uns noch nicht einmal in der Nähe blicken lassen, auch meine Eltern mussten versprechen, in ihren Zimmern zu bleiben. Nichts wäre ihm peinlicher gewesen, als dass sie dazugekommen wären, um seine Gäste zu begrüßen. Nanna, Jamal und ich waren
im Schlafzimmer von Ayeya, das am Ende des Flurs war, weit weg von Musik und Gelächter. Das Licht war aus, nur die Straßenlampe leuchtete durchs Fenster, doch einzuschlafen war schwer, denn wir bekamen den ganzen Lärm mit. Die Autos, die vor unserem Haus hielten, hochhackige Schuhe, die auf dem Marmorboden klackten. Und da waren die lachenden Mädchenstimmen, die bis zu uns drangen, dazu die Musik, die herüberdröhnte. Farid hatte wohl seine ganze Schule eingeladen und feierte bis in die Morgenstunden.
    Farid genoss viele Freiheiten. Uns jüngeren Geschwistern gegenüber konnte er grausam und unberechenbar sein. Ich erklärte es mir damit, dass er vor unserer Geburt wie ein Einzelkind verwöhnt worden war, weil die Ärzte meinen Eltern gesagt hatten, dass meine Mutter keine weiteren Kinder bekommen könne. Meine Mutter ließ sich später behandeln und wurde zehn Jahre später erstmals wieder schwanger. Farid musste nun die wenige Aufmerksamkeit auch noch teilen, die Zeiten, in denen er verhätschelt wurde, waren für ihn vorbei. Mit seinen kleinen Geschwistern wusste Farid nicht viel anzufangen, er mochte uns nicht einmal, sagte selten etwas Nettes zu uns und zeigte keine Zuneigung. Vielleicht lag es daran, dass er selbst statt Zuneigung nur Spielsachen und Geld bekommen hatte. Wenn Farid Langeweile hatte, war er besonders gemein, dann jagte er uns Angst ein und lachte sich darüber kaputt. Wenn unsere Eltern nicht zu Hause waren, ging er am liebsten mit uns ins Wohnzimmer oder in den Keller, wo wir uns Horrorfilme anschauen mussten, die so

Weitere Kostenlose Bücher