Das Mädchen, das nicht weinen durfte
als Hilfskräfte in der Botschaft, als Fahrer oder bei uns im Haushalt, vorausgesetzt, sie konnten lesen und schreiben, was bei wenigen der Fall war.
Seta war lebenslustig und intelligent, ich bewunderte sie, weil sie ihr eigenes Leben in einer Wohnung im fünften Stock einer kleinen Hochhaussiedlung führte. Das war so ziemlich das Ungewöhnlichste, was eine somalische Frau durfte, solche Freiheit war ein Tabu, auch in gehobenen Kreisen. Sie hörte laute Musik von Sade und Madonna, deren Frisuren sie kopierte, und das typische Madonna-Muttermal hatte sie auch über ihrem Mund.
Ab und zu brachte mich Papa zu ihr. Vor ihrem Haus gab es einen Spielplatz und eines Tages spielte ich im Sandkasten und wartete, bis ich wieder abgeholt wurde. Die Balkontür von Seta war offen, damit sie immer einen Blick auf mich werfen konnte. Plötzlich sah ich eine Gruppe von Kindern am Sandkasten stehen, es waren drei Jungs, die mich beobachteten. Mein Gefühl sagte mir, dass sie nicht mit mir spielen wollten, denn sie flüsterten, und das machte mich nervös. Ich blickte rüber zum Balkon, aber Seta war nicht zu sehen, und die Jungen schienen irgendeinen Plan zu schmieden. Ich wollte verschwinden, aber noch bevor ich einen Schritt aus dem Sandkasten machen konnte, krallte sich eine Hand tief in meine Haare, sodass ich mich vor Schmerzen nach vorn beugte. »Seeetaaaaa! Seeetaaaaa!«, rief ich, aber die Jungs schreckte mein Geschrei nicht.
»Negerkind! Negerkind! Wo kommst du denn her?«, riefen sie und lachten, während sie mich an den Haaren durch den Sand ziehen wollten. Endlich hörte ich die kreischende Stimme von Seta. Sie stand auf dem Balkon und brüllte so laut, dass die Jungs mich fallen ließen und wegrannten. Seta tröstete mich, hatte aber auch Angst, dass sie Ärger mit meinem Vater bekommen würde, weil sie nicht auf mich aufgepasst hatte. Ich musste ihr versprechen, nichts zu erzählen, und ich hielt mich dran.
Der Respekt vor meinem Vater war bei allen Verwandten sehr groß, fast ehrfurchtsvoll begegneten sie ihm. Alle waren ihm dankbar, denn er war sehr großzügig und half, wo er helfen konnte, es gab wohl kaum einen in der Familie, der nicht in seiner Schuld stand. Wenn Seta oder eine meiner anderen Cousinen ihn begrüßten, machten sie einen Knicks und küssten seine Hand. Eines Tages herrschte ganz besondere Aufregung bei uns zu Hause. Alle Angestellten wuselten geschäftig umher, in der Küche wurde gebrutzelt, allerlei somalische Köstlichkeiten wurden gekocht und gebacken. Die meisten davon waren aufwendig in der Zubereitung, weshalb sie auch nur zu besonderen Feierlichkeiten aufgetischt wurden. Es wurden an diesem Tag Gerichte zubereitet wie Kalamudo, eine Art Spätzle, ein Teig, der zunächst geknetet, dann in kleine Stücke geschnitten, mit den Händen gerollt und schließlich gekocht wird. Es gab auch Sambusi, ein dreieckiges, knuspriges Bratgebäck mit Hackfleisch, Zwiebeln und Chili drin. Dieses Gericht mochte ich ganz besonders gern!
Meine Oma hatte normalerweise in der Küche immer ein Auge darauf, dass alle Spezialitäten richtig zubereitet wurden, doch diesmal fand ich sie in ihrem Schlafzimmer. Ayeya war gerade damit beschäftigt, ihren Koffer voller bunter, seidener Kopftücher und Gewänder zu sortieren. In Somalia hatte sie diese Tücher an Frauen verkauft, die etwas Festliches zum Anziehen brauchten, hier trugen sie meine Tanten oder auch Seta meist zu Hause oder wenn die Frauen unter sich waren. Und zu Festen legten sie ihren
kostbarsten Goldschmuck an, unzählige Armreifen, schwere Ohrringe und große Halsketten, dazu trugen sie Tücher aus ganz weiten, leichten Stoffen, die farbenfroh wie ein Regenbogen waren und dennoch durchsichtig, sodass die Frauen darunter einen langen Unterrock tragen mussten. Ayeya besaß prächtige Kleider und Stoffe in allen Varianten: Kleinere Tücher wurden zu einem Dreieck gefaltet und über die Stirn gelegt, die Enden wurden dann hinten zusammengebunden. Die größeren Stoffe wurden erst sehr eng entlang der Taille gebunden und dann weiter oben um den Körper gewickelt. Die Enden der Stoffbahnen wurden asymmetrisch über eine Schulter gezurrt. Leider habe ich bis heute nicht gelernt, wie man solche »Tuchkleider« richtig anzieht. Am besten standen diese Gewänder meiner Tante Tita. Sie war klein und zierlich und hatte einen wohlgeformten Po, der immer hin und her wackelte, wenn sie im Rhythmus der somalischen Lieder tanzte, die sie lauthals sang. Wenn sie
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